06 Dezember 2011

Ein politisches Projekt

In Maastricht ging es vor zwanzig Jahren nicht nur um Wirtschaft, sondern vor allem um Politik.
Noch dreimal schlafen: Am nächsten Freitag, dem 9. Dezember, wenn der Europäische Rat in Brüssel die neueste, nun-aber-ganz-sicher-wirklich-funktionierende Lösung der Euro-Krise präsentiert, jährt sich auch zum zwanzigsten Mal der Gipfel von Maastricht, auf dem seinerzeit die Währungsunion beschlossen wurde. Und dies soll hier der Anlass sein, um einmal ein Argument zu thematisieren, das in letzter Zeit öfters zu hören war, und zwar nicht nur von den üblichen Verdächtigen der deutschen Euroskeptikerszene: nämlich der Vorwurf, dass die Erschaffung des Euro ein Fehler gewesen sei, da die Eurozone kein optimaler Währungsraum ist und von Anfang an abzusehen war, dass die Kosten der gemeinsamen Währung ihren wirtschaftlichen Nutzen übersteigen würden.

Der Euro: eine ökonomische Dummheit? 

So schreibt etwa Paul Krugman (in einer Kritik an vorgeblichen Technokraten, die eigentlich „grausame Romantiker“ seien):
Let’s start with the creation of the euro. If you think that this was a project driven by careful calculation of costs and benefits, you have been misinformed.
The truth is that Europe’s march toward a common currency was, from the beginning, a dubious project on any objective economic analysis. The continent’s economies were too disparate to function smoothly with one-size-fits-all monetary policy, too likely to experience “asymmetric shocks” in which some countries slumped while others boomed. And unlike U.S. states, European countries weren’t part of a single nation with a unified budget and a labor market tied together by a common language.
So why did those “technocrats” push so hard for the euro, disregarding many warnings from economists? Partly it was the dream of European unification, which the Continent’s elite found so alluring that its members waved away practical objections. And partly it was a leap of economic faith, the hope — driven by the will to believe, despite vast evidence to the contrary — that everything would work out as long as nations practiced the Victorian virtues of price stability and fiscal prudence.

Fangen wir an mit der Erschaffung des Euros. Wenn Sie denken, dass das ein Projekt war, das einer sorgfältigen Kosten-Nutzen-Rechnung folgte, sind Sie falsch informiert.
Die Wahrheit ist, dass Europas Marsch zu einer gemeinsamen Währung von Anfang an nach jeder ökonomischen Analyse ein zweifelhaftes Projekt war. Die Ökonomien des Kontinents waren zu disparat, um sich glatt in eine gemeinsame Geldpolitik einzufügen, es war zu wahrscheinlich, dass sie „asymmetrische Schocks“ erleben würden, in denen manche Staaten abstürzten, während andere boomten. Und anders als die US-Staaten waren die europäischen Länder auch nicht Teil einer einzelnen Nation mit einem gemeinsamen Budget und einem Arbeitsmarkt, der durch eine gemeinsame Sprache zusammengehalten wurde.
Warum also schlugen diese Technokraten in ihrem Drang zum Euro so viele Warnungen von Wirtschaftswissenschaftlern in den Wind? Teils war es der Traum der europäischen Einigung, den die Elite des Kontinents so verlockend fand, dass ihre Mitglieder alle praktischen Einwände beiseite wischten. Und teils war es ein Schritt des wirtschaftlichen Glaubens, die Hoffnung – getrieben vom Willen zu glauben, trotz umfassender Belege für das Gegenteil –, dass alles schon gut gehen würde, solange die Staaten sich nur in den viktorianischen Tugenden von Preisstabilität und fiskalischer Besonnenheit übten.
Was ist von dieser Sichtweise zu halten? Ich will hier nicht auf das wirtschaftliche Argument eingehen, dass auch die alten europäischen Nationalstaaten keine optimalen Währungsräume waren: Die Eurozone mag dafür vielleicht zu groß sein, die Staaten sind jedenfalls zu klein. Es soll hier auch nicht darum gehen, dass Währungsunionen zum Zeitpunkt ihrer Gründung häufig noch heterogener sind, als ein optimaler Währungsraum sein sollte, und erst im Lauf der Zeit zusammenwachsen – was auch für die USA zutrifft, die ja bei Einführung des Dollars um 1700 noch keineswegs ganz selbstverständlich eine „einzelne Nation“ waren (sondern dreizehn britische Kolonien, die sich dann für unabhängig erklärten, einen gemeinsamen Staat gründeten, nach Westen expandierten, Millionen von Einwanderern integrierten, einen Bürgerkrieg führten und so weiter). Ich will auch nicht die eigentliche Kritik Krugmans an der Währungsunion in Frage stellen, nämlich dass das Fehlen eines gemeinsamen Budgets nicht allein durch ein Bekenntnis zu Preisstabilität und Haushaltsdisziplin wettgemacht werden kann: In der Anfälligkeit für asymmetrische Schocks lag in der Tat der wichtigste Konstruktionsfehler des Vertragsgefüges, wie sich durch die Auswirkungen der US-Finanzkrise nur allzu deutlich zeigte. Und es stimmt durchaus, dass diese Warnungen auch schon 1990/91 während der Verhandlungen über die Währungsunion von vielen Seiten erhoben wurden.

Politische Vernunft

Nicht richtig ist aber die Vorstellung, dass die europäischen Regierungen sich nur aus einer Art ignoranten Idealismus darüber hinwegsetzten, weil sie von einem naiven Traum getrieben wurden und zu dumm waren, sich auf harte wirtschaftliche Argumente einzulassen. Was Krugman und viele andere nicht zu verstehen scheinen, ist, dass der Euro von Anfang an nicht nur ein ökonomisches, sondern vor allem ein politisches Projekt war. Dahinter stand nicht nur ein verlockender Wunsch, sondern die Erwartung eines sehr konkreten Nutzens, für den die Mehrzahl der europäischen Politiker einen wirtschaftlichen Preis zu zahlen bereit war – und von dem wir bis heute profitieren. Denn es ist überaus zweifelhaft, ob ohne den Euro heute (fast) ganz Europa demokratisch regiert würde und ob sich die europäischen Kriege der 1990er Jahre auf den westlichen Balkan beschränkt hätten.

Der Euro ist nämlich vor allem anderen ein Kind der unsicheren Jahre am Ende des Kalten Krieges. Zwar war der Delors-Plan zur schrittweisen Einführung einer Währungsunion vom Europäischen Rat bereits Mitte 1989 angenommen worden, doch ob und wann er wirklich umgesetzt werden würde, stand zu diesem Zeitpunkt noch völlig in den Sternen. Erst durch den Fall der Berliner Mauer setzte die Dynamik ein, die schließlich zum Vertrag von Maastricht führte: Die deutsche Wiedervereinigung drohte die Machtgleichgewichte in Europa zu verschieben, indem sie mitten auf dem Kontinent ein Land entstehen ließ, das sowohl nach Einwohnerzahl als auch nach Wirtschaftskraft alle anderen übertraf. Ein Ausdruck dieser deutschen Hegemonialposition war die Rolle der D-Mark als unumstrittene europäische Leitwährung. Dass die französische Regierung unter François Mitterrand die Währungsunion zur Voraussetzung für ihre Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung machte, folgte in erster Linie dem nationalen Interesse, dass die französische Geldpolitik künftig nicht mehr allein von den Entscheidungen der deutschen Bundesbank abhängig sein sollte. Dennoch wäre Helmut Kohl dank der amerikanischen Unterstützung vermutlich in der Lage gewesen, die Wiedervereinigung in der ein oder anderen Weise auch gegen den französischen Widerstand durchzusetzen. Eine solche allein auf Machtpolitik basierte Strategie hätte jedoch enorme Gefahren mit sich gebracht.

Der Fall des Kommunismus hatte nämlich nicht nur die deutsche Wiedervereinigung ausgelöst, sondern auch ein Machtvakuum in Ostmitteleuropa, wo in den meisten Ländern zunächst unklar war, ob sich die Demokraten oder die radikalen Nationalisten durchsetzen würden. Zugleich kam es auch in den Mitgliedstaaten der EG zu einem Aufflackern des Nationalismus, mit Wahlerfolgen etwa der deutschen Republikaner und des französischen Front National. So friedlich die antikommunistischen Revolutionen bis dahin verlaufen waren, so unabsehbar waren die Folgen, wenn die westeuropäischen Regierungen sich auf einen Kurs begeben würden, der die nationale Stärke und nicht die staatenübergreifende Gemeinschaft zum politischen Leitbild machte. Nötig war also ein klares Zeichen, dass Deutschland um des Friedens und der Demokratie willen bereit war, auf seine Rolle als europäischer Hegemon zu verzichten: Nötig war (in den Worten Robert Schumans 1950) eine solidarité de fait, in der das Wohlergehen jedes Landes unmittelbar von dem der anderen Länder abhängig sein würde.

In dieser Situation erwies sich die Währungsunion als die bestmögliche Antwort – nicht obwohl, sondern gerade weil sie ein enormes wirtschaftliches Risiko barg. Die Absicht des Gipfels von Maastricht war es, für die Zukunft eine klare Richtung vorzugeben: Die Mitgliedstaaten der EG beschlossen, sich auf eine Einheitswährung einzulassen, die man nur zu einem solch gigantischen Preis jemals wieder würde rückgängig machen können, dass die Option einer Entflechtung praktisch ausgeschlossen war. Von jetzt an konnten die Europäer einander trotz der politischen Krisen Vertrauen schenken, da eine Renationalisierung jeden einzelnen Staat zwangsläufig teurer zu stehen kommen würde als die Fortsetzung der Kooperation. Im Vertragstext selbst spiegelte sich das in der Erklärung wider, dass die Europäische Union eine „föderale Berufung“ habe – eine Wendung, die erst im letzten Moment auf Drängen Großbritanniens (das sich durch sein Opt-out aus der Währungsunion zum Trittbrettfahrer der europäischen Einigung machte) durch die Formulierung der „immer engeren Union“ ersetzt wurde.

Auch heute

Wenn an diesem Wochenende also die Mitgliedstaaten der Eurozone vor der Entscheidung stehen, entweder in der Krise füreinander einzustehen und einen Großteil ihrer Budgethoheit auf die EU zu übertragen oder sich bei einem Zerfall der Währungsunion auf eine gewaltige Rezession und Billionenverluste einzustellen, dann ist das nicht die Folge einer naiven Schönwetterpolitik Anfang der neunziger Jahre. Es ist vielmehr der Beweis, dass die damalige Strategie Kohls, Delors' und Mitterrands aufgegangen ist: eine Situation zu schaffen, in der für jeden, auch den stärksten Mitgliedstaat die vernünftigere Lösung der Schritt zu mehr föderaler Überstaatlichkeit ist und nicht die Rückkehr zum Nationalismus.

Und auch heute stehen mit der Zukunft des Euros nicht nur wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel, sondern wesentliche politische Fragen. Zwar geht es inzwischen in Europa vielleicht nicht mehr um Krieg und Frieden, aber doch um die Zukunft der europäischen Demokratie – etwa um die Entscheidung, ob das Billionenbudget, aus dem Rettungsmaßnahmen für Krisenstaaten künftig finanziert werden, dem direkt gewählten Europäischen Parlament unterstellt sein soll oder einem intergouvernemental verwalteten Währungsfonds. Insofern ist den Teilnehmern des Gipfels in Brüssel nicht nur ökonomischer Sachverstand zu wünschen, sondern mindestens dieselbe politische Weitsicht, wie sie der Gipfel von Maastricht am 9. und 10. Dezember 1991 besaß.

Bild: Julian Ilcheff Borissoff (Eigenes Werk) [CC-BY-3.0], via Wikimedia Commons

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