10 Januar 2012

Tunesien: Ein Jahr ohne ZABA

In Tunis sind einige Straßen und Plätze nach historischen Daten benannt – der 14. Januar gehört jetzt auch dazu.
Am kommenden Samstag wird in Tunesien erstmals ein neuer nationaler Feiertag begangen: 'id al-thaura wa al-schabab, das „Fest der Revolution und der Jugend“. Es wird dann genau ein Jahr her sein, dass der frühere Diktator Zine el-Abidine Ben Ali, kurz ZABA genannt, ins Exil nach Saudi-Arabien geflüchtet ist und der lange und schwierige Weg der Demokratisierung des Landes beginnen konnte.

Zu den eindrucksvollsten Erlebnissen, die ich persönlich im vergangenen Jahr hatte, gehörte ein Aufenthalt in Tunis im Dezember, der mit der Verabschiedung der petite constitution (dem vorläufigen Grundgesetz, das bis zum Erlass der endgültigen Verfassung in Kraft sein soll) durch die verfassunggebende Versammlung zusammenfiel. Beachtlich fand ich dabei nicht nur, mit welcher Ausführlichkeit, Ernsthaftigkeit und Meinungsvielfalt die politischen Vorgänge in den tunesischen Zeitungen diskutiert werden – in einem Land, das sich wenige Monate vor der Revolution in der Pressefreiheitsrangliste von Reporter ohne Grenzen noch auf Platz 164 von 178 befand und in der kritische Medien (wie das großartige satirische Blog Debatunisie) nur unter dem Schutz der Anonymität und im Ausland angesiedelter Internetserver möglich waren. Beeindruckend war auch, wie sich die Nachwirkungen der Revolution auch in der Zivilgesellschaft und auf der Straße bemerkbar machten – etwa durch die sit-ineurs, die großteils studentischen Demonstranten, die im Stil der Occupy-Bewegung unter anderem die Straße vor dem Gebäude der verfassunggebenden Versammlung in Le Bardo besetzten, um einen transparenten und demokratischen Verfassungsprozess einzufordern. Selbst wenn man nicht alle Forderungen im Manifest der sit-ineurs von Le Bardo teilt: Ihr friedlicher Protest und die Dialogbereitschaft, die die Abgeordneten ihnen gegenüber an den Tag legten, zeugen von einer erstaunlich reifen politischen Kultur.

Obwohl es sicher noch zu früh ist, um eine Schlussbilanz der tunesischen Revolution zu ziehen, hat das Land offensichtlich gute Aussichten, die Demokratisierung seines politischen Systems erfolgreich zu vollenden. Dabei fällt die Hauptverantwortung natürlich den Tunesiern selbst zu – aber es liegt an Europa, ihnen den Weg dorthin schwerer oder leichter zu machen. Zwei Aspekte scheinen mir dabei besonders bedeutend: die Rolle der Religion und die der Wirtschaft.

Islamdemokraten

Angesichts der Wahlergebnisse in Ägypten ist in der europäischen Medienlandschaft in den letzten Tagen immer wieder davon die Rede, dass „die Islamisten“ die eigentlichen Profiteure der arabischen Revolutionen seien, stellen Vertreter des politischen Islams doch die größte Partei im tunesischen und bald wohl zwei Drittel der Abgeordneten im ägyptischen Parlament. Diese Gleichsetzung scheint mir unangemessen und gefährlich: Die tunesische al-Nahda ist anders als die ägyptische Muslimbruderschaft, und die Muslimbrüder sind anders als die salafistische al-Nur. Die pauschale Zusammenfassung in die Kategorie des „Islamismus“ (bestenfalls mit einer vagen Differenzierung zwischen „gemäßigt“ und „radikal“) verstellt den Blick darauf, dass manche Gruppierungen tatsächlich eine autoritäre Theokratie anstreben, während andere sich zwar für eine religiös motivierte Politik einsetzen, aber nur unter Anerkennung demokratischer Prinzipien und individueller Persönlichkeitsrechte. Der Unterschied ist himmelweit.

Nun vergeht kaum ein Tag, ohne dass in der tunesischen Öffentlichkeit jemand vor einer neuen Diktatur warnt, und über die eigentlichen Ziele und möglichen geheimen Absichten von al-Nahda wird auch hier kontrovers diskutiert. Dass ihr Generalsekretär Hamadi al-Jabali vor seiner Wahl zum Regierungschef schon einmal seine Hoffnung auf ein „sechstes Kalifat“ zum Ausdruck gebracht hat, wurde in den liberalen tunesischen Medien mit Sorge, Protest und einigem Spott aufgenommen. Wenn man sich jedoch ansieht, wie kompromissbereit sich al-Nahda bis jetzt in wichtigen verfassungspolitischen Fragen sowohl gegenüber ihren säkularen Koalitionspartnern (dem linksliberalen CPR und dem sozialdemokratischen Ettakatol) als auch gegenüber der Opposition gezeigt hat – so wurde in der petite constitution die Exekutivmacht nicht vollständig auf die von al-Jabali geleitete Regierung übertragen, sondern zwischen ihm und Staatspräsident Moncef Marzouki vom CPR aufgeteilt, und das Quorum für ein parlamentarisches Misstrauensvotum wurde auf Verlangen der Opposition von den zunächst vorgesehenen zwei Dritteln auf die Hälfte der Abgeordneten reduziert –, darf man durchaus optimistisch sein, dass die wiederholten demokratischen Bekenntnisse des Parteivorsitzenden Rachid al-Ghannouchi ernst gemeint sind.

Tatsächlich erinnert mich al-Nahda, wenn der Vergleich erlaubt ist, in vielem an die deutsche CDU der Adenauer-Zeit. In ihren gesellschaftspolitischen Vorstellungen war diese konservativ in einem Maß, das heute wohl auch die meisten Merkelianer abschrecken würde: Wer erinnert sich schon gern daran, dass homosexuelle Handlungen unter Männern in Deutschland bis 1969 strafrechtlich verfolgt wurden und Frauen bis 1977 nur erwerbstätig sein konnten, „soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist“? Ebenso wie in al-Nahda gab es auch in der CDU der fünfziger Jahre ominöse Strömungen – etwa im Umfeld der katholischen Abendlandbewegung, wo angesehene Politiker wie Otto von Habsburg oder Hans-Joachim von Merkatz recht offen mit dem spanischen Franquismus sympathisierten. Und dennoch wird man auch der Adenauer-CDU aus der Rückschau nicht absprechen können, dass sie staatspolitisch durchaus schon in der Demokratie verankert war und das politische System der Bundesrepublik sich unter ihrer langjährigen Regierungszeit stabilisierte, ohne allzu große bleibende Schäden zu nehmen.

Ich frage mich deshalb manchmal, weshalb die Europäische Volkspartei sich hier nicht stärker engagiert. Auch wenn die EVP heute insgesamt ein liberaleres Gesellschaftsbild vertritt, teilt sie mit al-Nahda doch die Idee einer religiös inspirierten konservativ-demokratischen Politik: Warum also nicht die Kooperation ausbauen, etwa im Rahmen der Christlich-Demokratischen Internationalen (die auf Englisch etwas unverfänglicher Centrist Democrat International heißt)? Die Herausforderung, Religion und Demokratie miteinander zu vereinen, ist in der arabischen Welt dringlicher, aber nicht fundamental anders als in Europa.

Nötig ist ein Wirtschaftsaufschwung

Die größte Gefahr für das neue politische System Tunesiens geht heute nicht vom Islam aus, sondern von der Arbeitslosigkeit. Diese war vor einem Jahr der wichtigste Auslöser der Revolution, ist aber seitdem nur weiter gestiegen. Das ist wenig überraschend: Schon kurz nach dem Sturz Ben Alis war erkennbar, dass sich die politische Unsicherheit, die Sit-ins und Streiks und der ausbleibende Tourismus negativ auf die ökonomische Entwicklung auswirken würden. Dennoch kann mittelfristig die Stagnation der tunesischen Wirtschaft (2011 erfuhr das BIP ein Nullwachstum) und die Armut der Bevölkerung die Legitimität der jungen Demokratie untergraben – es ist ein weltweit bekanntes Phänomen, dass ökonomische Not oft eine politische Radikalisierung nach sich zieht. Unabhängig von ihrer sonstigen Weltanschauung sehen deshalb auch die meisten Tunesier den Abbau der regionalen Ungleichgewichte zwischen den reicheren Küstenregionen und dem weniger entwickelten Landesinneren als wichtigste Aufgabe ihrer neuen Regierung an.

Glücklicherweise ist hier aber zugleich auch der Bereich, in dem die EU das meiste für den Erfolg der Demokratisierung Tunesiens tun kann. Schon unter Ben Ali wurde die wirtschaftliche Kooperation im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik stark ausgebaut, was heute oft kritisiert wird – in meinen Augen nicht ganz zu Recht, da schließlich die ökonomische Entwicklung dazu beitrug, die gebildete Mittelschicht zu schaffen, die später den Sturz des Diktators vorantrieb und auf die heute der demokratische Staat aufbauen soll. Jetzt, nach der Revolution, steht einer Vertiefung dieser Zusammenarbeit nichts mehr im Weg. Der erste Schritt dazu ist zweifellos das statut avancé, das die EU in Nordafrika bis jetzt nur Marokko zugestanden hat und das nun bald auch für Tunesien in Kraft treten soll. Es impliziert einen besseren Zugang zum europäischen Markt im Gegenzug zu einer Übernahme von Bestandteilen des EU-Rechts – gewissermaßen eine Vorstufe zum Europäischen Wirtschaftsraum. Das neue Statut darf aber noch nicht das Ende sein: Eine Ausweitung der Wirtschaftsförderung, ein Ausbau von Austauschprogrammen im Bildungswesen und vor allem eine deutlich offenere Einwanderungspolitik sind notwendig, wenn Europa die ökonomische Lage in Tunesien verbessern will.

Die Erfolgsliste der Europäischen Union bei der Förderung politischer Transformationsprozesse in ihrer Nachbarschaft ist lang; sie reicht von der iberischen Halbinsel über Mittelosteuropa bis zum Balkan. In all diesen Fällen stand jedoch stets ein besonderes Angebot im Raum – die Perspektive nämlich, dass das betreffende Land bei einer erfolgreichen Demokratisierung am Ende selbst der Union würde beitreten können. Wenn die EU heute Tunesien demokratische Hilfstellung leisten, aber trotzdem am Mittelmeer als ihrer südlichen Grenze festhalten will, dann bedeutet das für die Nachbarschaftspolitik eine völlig neue Herausforderung. Das wird sicher auch seinen finanziellen Preis haben: Je geringer die politischen Anreize sind, die Europa setzen kann oder will, desto weniger darf es bei den ökonomischen knausern. Am Ende wird sich die Investition aber allemal lohnen, wenn dadurch die politische Entwicklung in jenem Nachbarland der EU gestärkt wird, das sich anschickt, die erste funktionierende Demokratie in der arabischen Welt zu werden.

Bild: Eigenes Werk.

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