11 März 2012

Der Duff-Bericht (2): Warum transnationale Listen?

Am vergangenen Donnerstag hat das Europäische Parlament überraschend beschlossen, die für den 14. März geplante Plenardebatte zum Duff-Bericht über die Reform des Europawahlrechts von der Tagesordnung zu setzen. Damit ist nun unklar, ob überhaupt noch in dieser Legislaturperiode über den darin enthaltenen Vorschlag entschieden wird, das Parlament um 25 Abgeordnete zu erweitern, die auf gesamteuropäischen Listen gewählt werden sollen. Doch die Idee ist in der Welt und wird früher oder später auf die europäische Agenda zurückkehren. Was ist davon zu halten? Teil 2 einer Serie (zu Teil 1).

Nationale Sitzkontingente und degressive Proportionalität

Europawahlen unter nationaler Flagge sind gut für bunte Briefmarken, aber nicht für die Demokratie.
Zu den größten Ärgernissen des heutigen Europawahlsystems, bei dem nach Mitgliedstaaten getrennte Wahlen über jeweils nationale Kontingente der Parlamentssitze stattfinden, gehört das Prinzip der „degressiven Proportionalität“. Dieses besagt, dass bevölkerungsreichere Staaten zwar in absoluten Zahlen mehr, im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl jedoch weniger Abgeordnete stellen dürfen als bevölkerungsärmere. Nach den derzeitigen Regelungen kommt deshalb Deutschland mit etwas über 80 Millionen Einwohnern auf 96, Malta mit etwas unter 70.000 Einwohnern auf 6 Sitze; etwa im Mittel liegt Rumänien mit 21,5 Millionen Einwohnern und 33 Sitzen.

Durch diese Regelung versucht man, den extremen Größenunterschieden zwischen den EU-Mitgliedstaaten gerecht zu werden. Würden die Parlamentsmandate jeweils im direkten Verhältnis zur Einwohnerzahl auf nationale Kontingente aufgeteilt, so kämen die kleinsten Länder (Malta, Luxemburg, Zypern) nicht einmal auf einen ganzen der derzeit 751 Sitze. Alternativ müsste man, wenn man die Sitzzahl der kleinen Länder beibehalten wollte, das Parlament auf mehrere tausend Abgeordnete erweitern. Beide Optionen funktionieren offensichtlich nicht. Schon bei der Gründung des Parlaments entschied man sich deshalb für das Prinzip der degressiven Proportionalität – auch wenn das hieß, den Grundsatz der Erfolgsgleichheit aller Stimmen aufzugeben.

Für eine Volksvertretung ist das zwar ungewöhnlich, aber nicht ganz einmalig; das System der spanischen Kongresswahlen etwa basiert auf einem ähnlichen Mechanismus. Und wenn man statt der nationalen Herkunft der Europaabgeordneten die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments betrachtet, dann bleibt die degressive Proportionalität in der Praxis sogar weitgehend folgenlos: Die Größe der Fraktionen stimmt im Verhältnis fast genau mit den europaweit für sie abgegebenen Stimmen überein. Dennoch ist die fehlende Wahlgleichheit aber natürlich ein dauerhaftes Problem für die demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments – was gerade von Europaskeptikern immer wieder hervorgehoben wird, wenn es darum geht, den Europaabgeordneten einen größeren Einfluss auf die EU-Politik zu verweigern.

Weitere Widersinnigkeiten des heutigen Wahlsystems

Die degressive Proportionalität ist jedoch nicht das einzige Ärgernis, das durch die Aufteilung der Europawahlen in 27 nationale Einzelwahlen entsteht. Ein weiteres Problem ist die Verzerrung, die sich durch die unterschiedlich hohe Wahlbeteiligung in den verschiedenen Mitgliedstaaten ergibt: Da die Sitzkontingente pro Land fest sind, zählen die Stimmen, die in Staaten mit hoher Wahlbeteiligung abgegeben werden, weniger als die Stimmen in Ländern, wo nur wenige Wähler an die Urnen gingen.

Und schließlich führt die trotz der degressiven Proportionalität sehr geringe Abgeordnetenzahl der kleinen Länder dazu, dass dort die kleineren und mittelgroßen Parteien kaum eine Chance haben, überhaupt ein Mandat zu erringen. So kam etwa die maltesische grüne Partei Alternattiva Demokratika (AD/EGP) bei der Europawahl 2004 auf fast 10 Prozent der Stimmen, was bei damals fünf maltesischen Abgeordneten jedoch nicht für einen Sitz genügte: Rund ein Zehntel der maltesischen Wähler musste also mit ansehen, wie ihre Stimme nutzlos verfiel. Bei der Europawahl 2009 hatten die Malteser daraus gelernt und konzentrierten ihre Stimmen auf die beiden einzigen aussichtsreichen Parteien, die Partit Laburista (PL/SPE) und die Partit Nazzjonalista (PN/EVP). Der Stimmenanteil der AD sackte auf 2,4 Prozent ab. In Luxemburg und Slowenien, wo die Wähler weniger strategisch vorgingen, verfiel bei den Europawahlen 2009 hingegen etwa jede siebte abgegebene Stimme, in Litauen beinahe jede fünfte, in Lettland fast jede vierte.

Der Duff-Plan: Schritt in die richtige Richtung

Die Einführung transnationaler Listen, wie sie der Duff-Bericht vorsieht, würde all diesen Problemen abhelfen. Die degressive Proportionalität würde für sie nicht mehr gelten, stattdessen hätte europaweit jede Stimme denselben Erfolgswert, gleichgültig ob sie in Deutschland oder in Luxemburg abgegeben wird. Die Malteser Grünen-Wähler müssten nicht mehr erleben, dass ihre Stimme wirkungslos bleibt; denn selbst wenn es für einen maltesischen Grünen-Abgeordneten nicht reicht, könnten sie damit doch immerhin die europäischen Grünen unterstützen. Und auch die unterschiedlich hohe Wahlbeteiligung in den verschiedenen Teilen Europas würde bei gemeinsamen europäischen Listen nicht mehr zu Verzerrungen führen.

Natürlich sollen dem Duff-Plan zufolge nur 25 Abgeordnete nach den transnationalen Listen gewählt werden. Da für die übrigen 751 weiterhin das Prinzip nationaler Sitzkontingente gelten würde, wären die damit verbundenen Probleme also nicht endgültig behoben. Immerhin aber wäre es ein Schritt in die richtige Richtung, die Einführung eines neuen Systems, das sich in Zukunft noch ausweiten ließe – und für die europäische Parteien eine Gelegenheit, um Prozeduren einzuüben, wie man sich staatenübergreifend auf gemeinsame Listen einigen kann.

Geografische Ausgewogenheit wird Aufgabe der Europaparteien

Denn wenn das strenge Korsett der nationalen Sitzkontingente entfällt, stünde natürlich jede politische Gruppierung vor der Frage, für wie viel geografische Vielfalt sie auf ihrer Liste sorgen will. Der Duff-Bericht sieht vor, dass sich auf jeder Liste Kandidaten aus mindestens einem Drittel der Mitgliedstaaten finden müssten. Das ließe den Parteien jedoch noch einigen Entscheidungsspielraum: Lohnt es sich, vor allem Kandidaten aufzustellen, die in den großen Mitgliedstaaten bekannt sind, wo es viele Stimmen zu holen gibt? Oder sollte die Liste Politiker aus möglichst vielen verschiedenen Ländern umfassen, um in allen Teilen Europas Wähler anzusprechen?

Bei der Herkunft der Kandidaten eine sinnvolle Balance zwischen den verschiedenen Ländern zu finden, würde so zu einer Aufgabe der europäischen Parteien – und damit zu einer politischen Entscheidung, für die sie sich vor ihrer (gesamteuropäischen) Wählerschaft zu rechtfertigen hätten. Wir kennen das aus Deutschland, wo die CSU bei der Zusammensetzung ihrer Wahllisten grundsätzlich auf eine angemessene Verteilung zwischen altbayrischen, fränkischen und schwäbischen Kandidaten achtet und wo kein Bundeskabinett mit SPD-Beteiligung denkbar ist, in dem nicht mindestens ein nordrhein-westfälischer, ein niedersächsischer und ein hessischer Minister vertreten wäre.

Doch dieser Regionalproporz ist in Deutschland nur noch ein von vielen belächelter Bestandteil der politischen Folklore, der für die parteiinternen Machtspiele zwar wichtig sein mag, den Bürgern selbst aber eher gleichgültig ist. Und auch auf EU-Ebene würde nach der Einführung transnationaler Wahllisten die Herkunft der Abgeordneten wohl eine immer kleinere Rolle spielen, da immer mehr Wählern bewusst würde, dass im Europäischen Parlament nicht nach Staaten, sondern nach Fraktionen abgestimmt wird. Mit dem Wahlsystem würde sich auch die Wahrnehmung der Wahlen verändern – aber dazu das nächste Mal mehr.

Der Duff-Bericht Überblick:
Teil 1: Auf zu einem neuen Europawahlrecht 
Update: Abstimmung verschoben
Teil 2: Warum transnationale Listen?
Teil 3: Für mehr europäische Öffentlichkeit
Teil 4: Was spricht eigentlich gegen die Wahlrechtsreform?

Bild: By Deutsche Bundespost (scanned by NobbiP) [see page for license], via Wikimedia Commons.

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