03 April 2012

Wen interessieren fünfundzwanzig Millionen Arbeitslose?

Arbeitslosenquote in der Eurozone: Der Trend geht in die falsche Richtung. Aber ist uns das eigentlich wichtig?
Den in Deutschland lebenden Leserinnen und Lesern dieses Blogs wird es wohl nicht entgangen sein, dass in Kürze elftausend Mitarbeiter des Unternehmens Schlecker ohne Job dastehen werden. Im Vergleich dazu ist eine andere Zahl in der deutschen Öffentlichkeit sehr viel weniger präsent: Wie Eurostat mitteilt, ist die Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union im Februar 2012 auf über 24,5 Millionen gestiegen, fast zwei Millionen mehr als vor einem Jahr. Die Arbeitslosenquote lag bei 10,2 Prozent. Noch etwas schlechter sieht es im Euroraum aus: Hier beträgt die Arbeitslosenquote sogar 10,8 Prozent und hat damit den höchsten Wert überhaupt seit der Einführung der gemeinsamen Währung erreicht.

Eigentlich sind solche Meldungen für Medien immer ein interessantes Thema. Schließlich ist die Arbeitslosigkeit etwas, das die Menschen direkt betrifft – der Punkt, an dem die Konjunkturentwicklung unmittelbare Folgen für das Alltagsleben zeigt. In der letzten großen deutschen Wirtschaftskrise vor etwa zehn Jahren zum Beispiel wurde die Verkündung des monatlichen Arbeitsmarktberichts geradezu zu einem politischen Ritual, das Regierung und Opposition zum Anlass nahmen, um ihre Kräfte zu messen. Dass Anfang 2005 die Arbeitslosenzahl erstmals über fünf Millionen stieg (was einer deutschlandweiten Quote von rund elf Prozent entsprach, also etwa dem Niveau der Eurozone heute), war ein symbolischer Wendepunkt, der das Ende der Regierung Schröder einleitete. Über die europäische Beschäftigungsstatistik heute aber findet der Leser mit Mühe einen kurzen Bericht auf den hinteren Seiten des Wirtschaftsteils.

Unterschiedliche Wahrnehmung

Warum lässt die europäische Arbeitsmarktmisere die deutschen Medien so kalt? Die Antwort darauf bot der wirtschaftspolitische Sprecher der Kommision, Amadeu Altafaj, bei der Präsentation der Arbeitslosenzahlen. Er hob hervor, dass sich hinter den Durchschnittsdaten enorme Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten verbergen: „Ein deutscher Bürger, der die Entwicklung von Arbeitslosigkeit und Wachstum betrachtet, hat eine ganz andere Wahrnehmung als ein spanischer Bürger.“

Und tatsächlich: Schlägt man allein den aktuellen Bericht der deutschen Arbeitsagentur auf, trägt gleich das erste Kapitel die Überschrift „Besserung setzt sich fort“. Die saisonbereinigte Arbeitslosenquote liegt hier nach der Berechnung von Eurostat bei gerade einmal 5,7 Prozent, mit sinkender Tendenz. Und obwohl die Umfragewerte der Bundesregierung konstant niedrig sind, ist es mit Sicherheit nicht die Beschäftigungspolitik, die ihr von den deutschen Bürgern zum Vorwurf gemacht wird. Dass in Süd- und Osteuropa die Wirtschaftskrise um sich greift, wird hier zwar zur Kenntnis genommen. Aber schließlich ist das kein deutsches Problem, und im Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein werden ohne Zweifel andere Themen im Vordergrund stehen.

Ganz anders Spanien, das mit einer Quote von 23,6 Prozent die Arbeitslosenrangliste anführt. Die Regierung Rajoy (PP/EVP), die seit gerade einmal hundert Tagen im Amt ist, musste in dieser Zeit bereits eine unpopuläre Steuererhöhung und eine noch unpopulärere Arbeitsmarktreform beschließen. Vor zehn Tagen wurde sie bei den Regionalwahlen in Andalusien und Asturien abgestraft; für vergangenen Donnerstag riefen die Gewerkschaften einen Generalstreik aus. Kein Wunder also, dass der Jobmangel hier das wichtigste politische Thema überhaupt ist – und die Online-Ausgabe von El País gestern mit einem Bericht über die jüngsten Eurostat-Daten aufmachte.

Appelle an die deutsche Kanzlerin

Doch anders als die Deutschen rechnen die Spanier den Zustand ihres Landes nicht allein ihrer eigenen Regierung zu, sondern in zunehmendem Maße auch der Europäischen Union. Schon als die Regierung Rajoy Anfang Januar mit einer Steuererhöhung ihre ersten Wahlversprechen brach, verwies sie auf die Alternativlosigkeit dieser Agenda: „Wenn nicht, hätten uns andere dazu gezwungen.“ Bei der Vorstellung des Haushaltsplans für das nächste Jahr betonte Rajoy heute erneut, dass die Sparmaßnahmen das einzige Gegenmittel gegen die drohende „Intervention“ seien (also gegen das, was deutsche Medien als die „Flucht unter den europäischen Rettungsschirm“ bezeichnen würden). Der Gewerkschaftschef Cándido Méndez beendete seine Rede am Tag des Generalstreiks mit einem Appell an „Merkel, Brüssel und die Märkte“, die zur Kenntnis nehmen sollten, dass die Sparpolitik in der spanischen Bevölkerung keine Unterstützung erfahre. Und auch in den Zeichnungen des El-País-Karikaturisten Peridis erscheint Angela Merkel zuletzt immer öfter in nicht allzu schmeichelhaften Zusammenhängen.

Denn natürlich ist sich in Spanien jeder des Zusammenhangs bewusst, dass es die von Deutschland verordnete Austeritätspolitik ist, die die spanische Wirtschaft immer tiefer in die Rezession drückt und damit auch zu Steuerausfällen und einer Verschärfung der Schuldenkrise führt. Schon im Parlamentswahlkampf im vergangenen Herbst zeichnete sich in der spanischen Öffentlichkeit eine gewisse Resignation ab, da die drängendsten Probleme des Landes nicht mehr allein auf nationaler Ebene, sondern nur noch gesamteuropäisch gelöst werden können, und die spanischen Politiker deshalb von den Entscheidungen im Europäischen Rat abhängig sind. Dort aber hat Deutschland als das einwohnerreichste und wirtschaftsstärkste Land der EU den meisten Einfluss. Es verwundert deshalb nicht, dass die Spanier nun immer mehr dazu übergehen, sich mit ihren Forderungen direkt an die deutsche Bundeskanzlerin zu wenden.

Was kümmert es Angela Merkel?

Doch ob diese Forderungen auch auf Gehör stoßen werden, scheint mehr als fraglich. Denn es ist zwar anzunehmen, dass man sich im Berliner Kanzleramt durchaus der wachsenden Unzufriedenheit am Mittelmeer bewusst ist. Doch die Wähler, auf deren Stimmen die Bundesregierung bei der nächsten Bundestagswahl angewiesen ist und vor denen sie sich deshalb rechtfertigen muss, sind nicht die Spanier, sondern die Deutschen. Solange die deutsche öffentliche Meinung die Wirtschaftskrise als etwas Fremdes ansieht, das nur die anderen Länder betrifft, wird deshalb auch die Bundesregierung wenig Anlass sehen, ihre Strategie zu ändern. In diesen Tagen jedenfalls stattete der CDU-Fraktionschef Volker Kauder der Regierung in Madrid einen Besuch ab und betonte dort in einer Pressekonferenz, dass „Spanien tut, was es tut, weil es das für notwendig hält, und nicht, wie es manchmal heißt, weil Frau Merkel das so will“. (Genau, das war derselbe Volker Kauder, der vor einigen Monaten noch stolz verkündete, jetzt werde in Europa Deutsch gesprochen.)

Wen also kümmert es, dass die europäische Arbeitslosenquote gerade ein historisches Maximum erreicht hat? Die Deutschen, die die größte Verantwortung für die Austeritätspolitik tragen, sind zugleich diejenigen, die am wenigsten von ihr betroffen sind. In den übrigen Mitgliedstaaten dagegen verbreitet sich die Überzeugung, den Weg aus der Krise ohnehin nicht selbst zu bestimmen, sondern der Willkür Berlins und der anonymen Eurokraten ausgeliefert zu sein. Es ist klar, dass dadurch die Politik der Europäischen Union als Ganzes an Legitimität verlieren wird.

Aus diesem Dilemma gibt es nur einen Ausweg: die Supranationalisierung und Demokratisierung der europäischen Wirtschaftspolitik. Die Europäische Kommission und das Parlament, dessen Wählerschaft die Bevölkerung der gesamten Union bildet, sind die einzigen Organe, die der europäischen Öffentlichkeit insgesamt verantwortlich sind. Anders als für die nationalen Regierungen wären für diese Institutionen tatsächlich die europäischen, nicht die nationalen Beschäftigungszahlen interessant. Nur sie werden bei den fünfundzwanzig Millionen Arbeitslosen keine Unterschiede zwischen „eigenen“ und „fremden“ machen, sondern die Interessen der Bürger in allen Mitgliedstaaten gleich gewichten. Wenn sich aber das politische Entscheidungszentrum von den nationalen Regierungen zu den supranationalen Organen verlagert, wird auch die öffentliche Debatte sich nicht mehr auf nationale, sondern auf gesamteuropäische Strategien zur Krisenbekämpfung ausrichten. Und mit einiger Sicherheit wären dann auch die deutschen Medien gegenüber dem menschlichen Leid in Süd- und Osteuropa sehr viel weniger gleichgültig, als sie das heute sind.

Bild: Eigene Grafik (Quelle: Eurostat, Angaben jeweils für das erste Kalenderquartal).

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