13 Juni 2012

Die Schengen-Reform und das Wesen der Europäischen Union

Eigentlich ist es doch ganz nett, dass man an der Grenze zwischen Bayern und Hessen keinen Pass mehr braucht.
Bei der Schengen-Reform liegen die Nerven blank. Inzwischen scheint es fast unmöglich zu sein, sich nüchtern Gedanken darüber zu machen, wie die EU-Mitgliedstaaten am besten ihre gemeinsamen Außengrenzen sichern können und in welchen spezifischen Ausnahmefällen der freie Personenverkehr innerhalb Europas eingeschränkt werden sollte. Stattdessen entwickelt sich die Frage zum symbolträchtigen Kräfteringen um das Wesen der EU selbst: Sind wir eine Union von Staaten, von denen letztlich jeder selbst für seine Sicherheit verantwortlich ist – oder sind wir eine Union von europäischen Bürgern, die sich gemeinsam um ihre gemeinsame Innenpolitik kümmern?

Institutionell wird dieser Konflikt zwischen dem Rat der nationalen Innenminister und dem Europäischen Parlament ausgetragen. Letzter Höhepunkt war die gestrige Parlamentsdebatte (Video), wo unter anderem der liberale Fraktionsvorsitzende Guy Verhofstadt (Open-VLD/ELDR) vorschlug, die derzeitige dänische Ratspräsidentschaft (die allerdings bereits in zwei Wochen endet) in allen innenpolitischen Fragen zu boykottieren. Außerdem wird es eine Klage des Parlaments vor dem Europäischen Gerichtshof geben. Es ist viel von Misstrauen die Rede – und es ist offensichtlich, dass der Streit auch in den nächsten Wochen und Monaten weitergehen wird.

Die Hintergründe

Worum es bei dem Konflikt konkret geht, habe ich hier und hier bereits ausführlicher dargestellt. Kurz gefasst zeigten sich 2011 einige Probleme des Schengen-Systems, durch das Personenkontrollen an innereuropäischen Grenzen abgeschafft wurden: Einerseits zeigte sich, wie missbrauchsanfällig das derzeitige Ausnahmeregelungssystem ist, bei dem es keine klaren Vorschriften gibt, unter welchen außergewöhnlichen Umständen Mitgliedstaaten vorübergehend doch wieder Grenzkontrollen einrichten können. Andererseits wurde offensichtlich, dass einige EU-Randstaaten (etwa Griechenland und Italien) mit der Sicherung der Schengen-Außengrenzen überfordert sind, sodass einige EU-Binnenstaaten (etwa Deutschland und Frankreich) einen Zustrom illegaler Einwanderer befürchten.

Infolgedessen präsentierte die Europäische Kommission einige Reformvorschläge, in deren Mittelpunkt eine Überarbeitung des sogenannten Schengener Grenzkodex steht (hier die derzeitige und die vorgeschlagene Version). Darin werden die Ausnahmeregelungen genauer gefasst und unter anderem ein neuer Punkt eingeführt, der die „Auswirkungen schwerwiegender Mängel bei den Kontrollen an den Außengrenzen“ als Argument zur Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen zulässt. Wenn also, so die Grundidee, Italien außerstande ist, seine Außengrenzen vor illegalen Einwanderern aus Afrika zu schützen, dann sollen künftig Österreich und Frankreich ihrerseits die Grenze zu Italien schließen dürfen.

Umstritten an der Reform war zunächst vor allem die Frage, wer in einem konkreten Fall darüber entscheidet, ob ein solcher Ausnahmetatbestand gegeben ist oder nicht. Um Missbrauch einzelner Mitgliedstaaten zu vermeiden, schrieb die Europäische Kommission in ihrem Vorschlag vor allem sich selbst eine zentrale Rolle zu. Dies wurde Ende April von Deutschland und Frankreich zurückgewiesen, die den Mitgliedstaaten mehr Entscheidungsfreiheit lassen wollen. Diese Woche nun schloss sich der Innenministerrat der deutsch-französischen Position an. Allerdings ist zweifelhaft, ob er damit durchkommen wird: Nach Art. 77 AEU-Vertrag fällt der Schengener Grenzkodex unter das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, bei dem der Rat und das Europäische Parlament zu einer gemeinsamen Position finden müssen; und da das Parlament in dieser Frage klar auf Seiten der Kommission steht, wird es entweder einen Kompromiss geben – oder die Reform wird gänzlich scheitern.

Schengener Evaluierungsmechanismus

Der eigentliche Aufreger von dieser Woche war jedoch ein anderer Punkt: Der Reformvorschlag der Kommission betrifft nämlich nicht nur den Schengener Grenzkodex, sondern auch den sogenannten Schengener Evaluierungsmechanismus (Wortlaut). Dabei handelt es sich um einen neuen eigenständigen Rechtsakt, der ein Verfahren einführt, mit dem überprüft werden soll, ob die Mitgliedstaaten ihre Schengener Verpflichtungen einhalten – darunter auch die Kontrolle der EU-Außengrenzen. Die Feststellung schwerwiegender Mängel im Rahmen dieses Evaluierungsverfahrens ist Bedingung dafür, dass die Ausnahmeregelungen des Grenzkodex greifen können. Um beim obigen Beispiel zu bleiben: Nur wenn durch den Evaluierungsmechanismus festgestellt wird, dass Italien den Flüchtlingsstrom nicht unter Kontrolle hat, darf Frankreich seine Grenze zu Italien schließen.

Was nun die heftigen Proteste im Europäischen Parlament auslöste, war, dass der Rat die Rechtsgrundlage dieses Evaluierungsmechanismus änderte. Für die Kommission stellt der Evaluierungsmechanismus einen Bestandteil des Schengen-Systems dar, der also wie der Grenzkodex unter Art. 77 AEU-Vertrag fällt. Der Rat jedoch beschloss, den Evaluierungsmechanismus stattdessen auf Art. 70 AEU-Vertrag zu stützen, in dem der Rat ermächtigt wird, Maßnahmen zur „Bewertung der Durchführung der [EU-Innenpolitik] durch die Behörden der Mitgliedstaaten“ zu beschließen.

Diese Änderung der Rechtsgrundlage hat auf den Inhalt des Evaluierungsmechanismus zunächst einmal keine Auswirkungen: Die Durchführung der Evaluierung sollte schon nach dem Kommissionsvorschlag durch einen speziellen Ausschuss mit Beamten aller Mitgliedstaaten erfolgen, der dann das Europäische Parlament nur über die Ergebnisse informiert. Der Unterschied liegt im Verfahren, mit dem der Evaluierungsmechanismus gegebenenfalls in Zukunft geändert werden könnte: Während für Entscheidungen nach Artikel 77 das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gilt, beschließt der Rat Maßnahmen nach Artikel 70 allein.

Technisches Detail oder Provokation?

Für den Beschluss des Rates gibt es deshalb zwei unterschiedliche Interpretationen. Der dänische Justizminister Morten Bødskov (S/SPE) etwa beteuerte im Europäischen Parlament, es handle sich nur um eine ganz „unpolitische“ Entscheidung: Da es im Evaluierungsmechanismus nun einmal darum gehe, die Durchführung von EU-Innenpolitik durch die Mitgliedstaaten zu bewerten, sei Artikel 70 rechtlich angebracht. Zu derselben Ansicht kam bereits Ende Januar übrigens auch das European Policy Centre, ein europäischer Thinktank, der allerdings dem Rat nahelegte, einen breiteren Kompromiss mit dem Parlament zu suchen.

Aus Sicht der meisten Europaabgeordneten dagegen handelt es sich bei dem Ratsbeschluss schlicht um eine unnötige Provokation; und auch die Innenkommissarin Cecilia Malmström (Mod./EVP), die für den ursprünglichen Kommissionsentwurf verantwortlich zeichnet, schloss sich dem Ärger der Parlamentarier an. Denn aus der Sicht der supranationalen Institutionen erscheint es nicht nur logisch, dass alle Schengen-Rechtsakte auf derselben Rechtsgrundlage, eben Artikel 77, erfolgen. Vor allem reagieren sie auf die indirekte Botschaft der Ratsentscheidung: nämlich dass die Innenminister entschlossen sind, die Kontrolle über das Schengen-System so weit wie möglich selbst zu behalten – und Kommission und Parlament aus den Entscheidungen herauszuhalten.

Institutionelle Logiken

Und dies ist der Punkt, an dem die Emotionen aufkochen und der Konflikt zwischen den Organen zu einem Konflikt über das Selbstverständnis der Europäischen Union insgesamt wird. Der Rat und das Parlament folgen dabei jeweils ihrer eigenen institutionellen Logik: Für die nationalen Innenminister geht es darum, den Wähler in ihrem jeweils eigenen Land das Gefühl von staatlichem Schutz zu geben – wenn nötig, auch durch die Wiedereinführung von Kontrollen an den nationalen Grenzen. Der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU/EVP) brachte das kürzlich zum Ausdruck: „Das Letztentscheidungsrecht bleibt natürlich bei den Mitgliedstaaten, denn wir sind verantwortlich für die Sicherheit unserer Bürger.“

Das Parlament dagegen versteht sich als Vertretung aller europäischen Bürger und betont deren Recht auf ungestörte Reisefreiheit im ganzen Schengen-Raum. So erklärte die grüne Fraktionsvorsitzende Rebecca Harms (Grüne/EGP), das nationale Entscheidungsrecht über die Wiedereinführung von Binnengrenzen sei „absurd, da ja Schengen von seiner Idee her übernational konzipiert ist und daher auch die Entscheidungen auf EU-Ebene […] getroffen werden sollten“. Und wenn einzelne Staaten mit der Sicherung der Außengrenzen überfordert sind, dann ist die Lösung aus Sicht von Parlament und Kommission eben nicht, die Binnengrenzen zu schließen – sondern eine weitere Supranationalisierung der Einwanderungs- und Grenzschutzpolitik. In den Worten der Abgeordneten Birgit Sippel (SPD/SPE): „Migration ist keine nationale Bedrohung, sondern eine Herausforderung, die einen gemeinsamen Ansatz und Solidarität auf EU-Ebene erfordert.“

Nationale oder europäische Innenpolitik?

Was also ist das Wesen der Europäischen Union? Bleiben wir eine Gemeinschaft von Staaten, die sich in guten Zeiten vertrauen und bereit sind, den Kontakt zwischen ihren jeweiligen Staatsbürgern zu erleichtern – die aber für schlechte Zeiten die Möglichkeit behalten wollen, sich auf sich selbst zurückzuziehen, die Solidarität mit den Nachbarn zu kappen und ihre Grenzen wieder hochzuziehen? Oder sind wir eine Gemeinschaft von Bürgern geworden, die ein gemeinsames europäisches Interesse daran haben, sich frei in Europa zu bewegen – und deshalb auch bereit sind, den Schutz der Außengrenzen und der inneren Sicherheit gemeinsamen europäischen Institutionen anzuvertrauen? Für die nationalen Minister bezieht sich das Wort „Innenpolitik“ auf das Innere ihres jeweiligen Staates. Für die europäischen Bürger aber, die sich als solche verstehen, braucht es in ganz Europa kein Außen mehr zu geben.

Bild: von Kontrollstellekundl (Eigenes Werk) [GFDL oder CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.

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