22 Juni 2012

Eine vertane Gelegenheit

Der deutsche Oppositionsführer Frank-Walter Steinmeier (SPD/SPE) konnte gestern keinen sehr überzeugenden Deal präsentieren.
Es kommt in diesen Zeiten, in denen die nationalen Regierungen die Steuerung der Anti-Krisen-Politik an sich reißen, nicht häufig vor, dass eine nationale Opposition bedeutenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der Europäischen Union nehmen kann. In Deutschland bot sich der SPD (SPE) und den Grünen (EGP) diese Woche eine solche Chance: Da die Bundesregierung für die Ratifikation des Fiskalpakts und des Europäischen Stabilitätsmechanismus eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag benötigt, war sie auf die Zustimmung mindestens einer der Oppositionsparteien angewiesen. Dass diese die neuen Maßnahmen vollständig zum Scheitern bringen würden, galt dabei von Anfang an als ausgeschlossen – aber immerhin konnten sie Bedingungen stellen und damit für ein ausgewogeneres Krisenbekämpfungspaket sorgen. Nachdem gestern die Details des Kompromisses verkündet wurden, lässt sich sagen: Sie sind damit weitgehend gescheitert.

Keine Goldene Regel

Für jeden, der nicht an die allein seligmachende Wirkung des radikalen Sparens glaubt, ist der Fiskalpakt derzeit die größte Herausforderung der Europäischen Union. Nicht nur, dass er für sich allein keine Lösung der Euro-Krise bietet: Mit seiner strikten Schuldenbremse versucht er zudem der künftigen Wirtschaftspolitik aller Mitgliedstaaten eine austeritätspolitische Schlagseite zu geben, die auch mittel- und langfristig die öffentlichen Investitionen und damit das ökonomische Wachstum der Euro-Staaten abwürgen wird. Die Austeritätskritiker müssen deshalb nicht nur ein einmaliges Konjunkturprogramm, sondern eine verfassungspolitische Korrektur durchsetzen.

Die einfachste Art, diese austeritäre Schieflage des Fiskalpakts zu überwinden, bestünde in der Einführung der sogenannten Goldenen Regel, wie sie der italienische Ministerpräsident Mario Monti (parteilos) vor einiger Zeit vorgeschlagen hat: Demnach sollen nur staatliche Konsumausgaben auf Pump verboten werden, nicht aber öffentliche Investitionen. Diese Option, für die sich vor einigen Jahren auch der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ausgesprochen hat, würde eine unkontrollierte Entwicklung der Staatsdefizite verhindern, trotzdem aber Raum für notwendige staatliche Maßnahmen lassen. Zudem wäre sie wohl mit dem Wortlaut des Fiskalpakts vereinbar und damit ohne allzu großen rechtlichen Aufwand zu verwirklichen.

Wie Carsten Schneider, haushaltspolitischer Sprecher der Fraktion, auf seiner Webseite schreibt, war die SPD vor einigen Jahren, als die Schuldenbremse im deutschen Grundgesetz beschlossen wurde, der Goldenen Regel gar nicht abgeneigt. In den Verhandlungen, die Bundesregierung und Opposition jetzt über den Fiskalpakt führten, kam dieser Lösungsansatz jedoch überhaupt nicht vor. Falls die deutsche Opposition das Ausmaß der austeritätspolitischen Schlagseite in der künftigen europäischen Finanzverfassung überhaupt erkannt hat, dann scheint sie jedenfalls nicht willens oder nicht fähig, etwas dagegen zu tun.

Kein Schuldentilgungsfonds

Wenn in den Verhandlungen das langfristige verfassungspolitische Problem keine Rolle spielte, dann war doch wenigstens zu hoffen, dass sie wenigstens eine überzeugende Lösung für die derzeitige Euro-Krise bieten würden. Tatsächlich traten SPD und Grüne mit einem Vorschlag hierfür an: dem Schuldentilgungsfonds, in dem die Euro-Länder einen Teil ihrer bestehenden Staatsschulden vergemeinschaften sollten. Dabei sollte jeder Mitgliedstaat seine in den Fonds ausgelagerten Schulden am Ende selbst abbezahlen – allerdings mit einem so langen Zeitplan, dass der akute Refinanzierungsdruck gelindert und das Vertrauen der Finanzmärkte wiederhergestellt würde.

Insgesamt also entspricht die Idee des Schuldentilgungsfonds einer Art „Eurobonds auf Zeit“. Sicherlich hat sie einige Schwächen: Zum einen würde der Fonds Spanien kaum nützen, dessen Schuldenproblem nicht im staatlichen, sondern im privaten Sektor liegt; zum anderen böte er keine dauerhaften Transfermechanismen, sodass die Währungsunion beim nächsten asymmetrischen Schock wieder in dieselbe Krise schlittern würde wie zuletzt. Immerhin jedoch bestehen gute Chancen, dass die aktuellen Probleme durch den Schuldentilgungsfonds eine gewisse Entlastung erfahren würden. Zusammen mit anderen Wachstumsmaßnahmen wäre er ein plausibler Schritt in Richtung Krisenlösung.

Bei den Verhandlungen mit der Regierung jedoch ließ die Opposition den Schuldentilgungsfonds zuletzt fallen. Auch wenn vor allem die Grünen sich zuvor sehr für die Idee stark gemacht hatten, setzte sich zuletzt die ablehnende Haltung der CDU/CSU (EVP) und FDP (ELDR) durch.

Aber immerhin eine Finanztransaktionssteuer

Was bei den Verhandlungen tatsächlich beschlossen wurde, war die Einführung einer europäischen Finanztransaktionssteuer, also einer Abgabe auf jegliche Geschäfte mit Aktien, Anleihen, Devisen und anderen Finanzprodukten. Dass sich SPD und Grüne ausgerechnet hierauf versteiften, ist wohl kein Zufall: Schließlich handelt es sich dabei um die in Deutschland populärste Idee im Forderungskatalog der Opposition. Ihr einziger Nachteil liegt darin, dass niemand so recht sagen kann, wozu sie eigentlich gut sein soll.

Denn von den Befürwortern einer Finanztransaktionssteuer werden in der Regel zwei Argumente angeführt, die beide wenig überzeugend sind: Einerseits sollen dadurch die Banken als angebliche Hauptverursacher der Krise an den Kosten für ihre Bekämpfung beteiligt werden, andererseits soll durch die Verteuerung von Spekulationsgeschäften die Bildung wirtschaftlicher Blasen verhindert werden. Doch das erste dieser beiden Ziele wäre auch auf sehr viel effizientere Weise möglich gewesen: etwa indem man direkt die Steuern auf Bankengewinne erhöht – oder auch durch die vom Internationalen Währungsfonds befürwortete „Stabilitätsabgabe“, die nicht alle Bankgeschäfte gleich behandeln, sondern je nach deren Risikograd mehr oder weniger hoch ausfallen würde.

Was jedoch die Verhinderung einer wirtschaftlichen Überhitzung betrifft, so ist die Transaktionssteuer ebenfalls ein reichlich ungeeignetes Instrument: Sie verteuert zwar Finanzgeschäfte und bremst damit die ökonomische Dynamik, doch die großen Immobilienblasen, die am Anfang der jüngsten Finanzkrise standen, hätte sie mit Sicherheit nicht verhindert. Denn bis zu ihrem Platzen ermöglichte die Blase enorme Spekulationsgewinne im zwei-, teilweise dreistelligen Prozentbereich – und keine Bank hätte sich von diesen Geschäften von einer Transaktionssteuer in Höhe von 0,1 oder 0,01 Prozent, wie sie jetzt geplant ist, abhalten lassen.

Der einzige Bereich, auf den die Transaktionssteuer tatsächlich Auswirkungen haben könnte, ist deshalb der sogenannte Hochfrequenzhandel: computerbasierte Geschäfte, bei denen Gewinne durch sehr viele im Millisekundentakt getätigte Einzeltransaktionen mit jeweils niedrigen Margen erzielt werden. Auch wenn die ökonomische Theorie seine genauen Auswirkungen noch nicht durchdrungen hat, gilt dieser automatisierte Handel gemeinhin als destabilisierender Faktor auf dem Finanzmarkt, und es ist wohl richtig, ihn durch die Transaktionssteuer einzudämmen.

Nur hat das nichts mit den Ursachen der Euro-Krise zu tun und bietet auch keinerlei Ansatz zu ihrer Überwindung. Was die Finanztransaktionssteuer und den Fiskalpakt thematisch miteinander verbindet, ist, dass es in beiden Fällen um Geld geht. Aber viel mehr dann auch nicht.

Alles bleibt dem Europäischen Rat überlassen

Hat die deutsche Opposition also versagt? Wenn man freundlich zu ihr sein will, dann kann man vielleicht sagen, dass sie ihr Bestes gegeben hat. Auf jeden Fall aber hat sie sich in den Verhandlungen mit der Bundesregierung von einer sehr nationalen Logik leiten lassen und sich mehr auf diejenigen Vorschläge konzentriert, die bei der deutschen Wählerschaft gut ankommen – nicht auf diejenigen, die tatsächlich erforderlich wären, um die Euro-Krise zu überwinden und eine austeritäre Schieflage der europäischen Finanzverfassung zu verhindern.

Dennoch bedeutet das natürlich nicht, dass diese Ideen nun gescheitert wären. Am Ende muss die Einigung darüber ohnehin auf gesamteuropäischer Ebene erzielt werden: das heißt im Europäischen Rat, der sich in einer Woche zu seinem nächsten regulären Gipfel versammeln wird. Sowohl die Europäische Kommission als auch die Regierungschefs von Frankreich, Spanien und Italien werden dort auf entschlossene Schritte zur Krisenbekämpfung pochen, und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Goldene Regel oder der Schuldentilgungsfonds zuletzt doch noch beschlossen werden. Auf nationaler Ebene aber haben SPD und Grüne der sparwütigen Bundesregierung erst einmal den Rücken gestärkt und damit eine hervorragende Gelegenheit verpasst, ihren eigenen Beitrag zu einer dauerhaften Krisenlösung zu leisten.

Und die Linke geht nach Karlsruhe

Die Krone aber setzte dem Fass die dritte deutsche Oppositionspartei auf: die Linke (EL), die sich gar nicht erst auf Verhandlungen einließ und im Bundestag als Einzige geschlossen gegen Fiskalpakt und Stabilitätsmechanismus stimmen wird. Kaum war die Einigung zwischen den übrigen Parteien bekannt geworden, kündigte sie eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht an. Doch während einiges an der inhaltlichen Kritik, die die Linke gegen den Fiskalpakt vorbringt, durchaus berechtigt ist, suchte sie sich für die Verfassungsklage das schlechteste aller möglichen Argumente aus: Wie Wolfgang Nešković, der Justiziar der Fraktion, erklärte, würde durch den Fiskalpakt und den ESM die Budgethoheit des Bundestags delegiert – und die deutsche Politik damit zukünftig „fremdbestimmt“.

Nun ist es allgemein bekannt, dass man in Karlsruhe kaum mit ökonomischen Argumenten, dafür aber seit einiger Zeit recht gut mit dem Schlagwort der nationalen Souveränität punkten kann. Aber, liebe Linke: „fremdbestimmt“? Und das von einer Partei, die für sich in Anspruch nimmt, der politischen Strömung anzugehören, die im 19. Jahrhundert den Internationalismus erfunden hat? Wann endlich werden wir uns daran gewöhnt haben, dass Brüssel nicht die Hauptstadt eines fernen Imperiums ist und dass wir für das europäische Recht selbst verantwortlich sind – als Bürger der Europäischen Union und vertreten durch unsere europäischen und nationalen Abgeordneten?

Die letzten beiden Tage jedenfalls waren keine Sternstunde der deutschen Europapolitik. Hoffen wir, dass die nächste Woche besser wird.

Bild: By Kuebi = Armin Kübelbeck [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.

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