06 Oktober 2012

Ein gemeinsames Budget für die Eurozone

Herman Van Rompuy hat ein paar Ideen, die die europäische Währungsunion revolutionieren könnten.
Der Europäische Rat neigt dazu, seine Macht hinter bescheidenen Formulierungen zu verstecken. Aus den Kamingesprächen, zu denen sich die Staats- und Regierungschefs seit 1974 alle paar Monate versammelten, wurde schnell eines der einflussreichsten Organe der EU. Seine informellen „Schlussfolgerungen“, anfangs nur als Presseerklärungen veröffentlicht, sind eine der wichtigsten Leitschnüre der Europapolitik. Längst werden sie auch nicht mehr auf den Gipfeltreffen selbst ausgehandelt, sondern von dem hauptamtlichen Ratspräsidenten Herman Van Rompuy (CD&V/EVP) bereits Wochen im Voraus vorbereitet: Am vergangenen Montag etwa schickte er den Regierungen der Mitgliedstaaten ein Papier, welches den ersten Entwurf für die Leitlinien der Schlussfolgerungen des am kommenden 18./19. Oktober stattfindenden Gipfels enthält. Und dieses Papier (veröffentlicht durch die Financial Times, hier der Wortlaut) hat es in sich.

Thema des Treffens soll unter anderem die Reform der europäischen Währungsunion sein. Denn ein Feuerlöscher ist kein Ersatz für Brandschutzmaßnahmen: Auch wenn am nächsten Montag endlich der ESM seine Arbeit aufnehmen wird, sind die strukturellen Ursachen der Eurokrise noch längst nicht behoben. Zum einen will Van Rompuy deshalb Fortschritte in Richtung einer gemeinsamen europäischen Bankenaufsicht machen, was im Grunde alle gut finden, auch wenn die deutsche Bundesregierung bei der Festlegung eines konkreten Zeitplans bisher auf der Bremse steht. Zum anderen aber schlägt Van Rompuy eine Reihe von Maßnahmen vor, die – wenn man sie zu Ende denkt – das Potenzial haben, die Wirtschafts- und Fiskalpolitik in der Eurozone zu revolutionieren.

Um gleich vorab einzuschränken: Auch wenn Van Rompuy im Vorfeld zahlreiche bilaterale Gespräche mit den Regierungschefs der Eurozone geführt hat, ist noch lange nicht sicher, ob (und gegebenenfalls, in wie verwässerter Form) seine Vorschläge zuletzt angenommen werden. Zudem lassen sie teils unterschiedliche Interpretationen zu – was beispielsweise Eric Bonse in seinem Blog Lost in EUrope zu einer deutlich negativeren Einschätzung bringt als mich. Aber nehmen wir einmal an, dass Van Rompuy es ernst meint mit der Stabilisierung der Eurozone, wie sehen dann seine Pläne aus?

Verpflichtende Koordinierung der Wirtschaftspolitik

Erstens soll die makroökonomische Koordinierung in der Währungsunion weiter vorangetrieben werden. Um die Wirtschaft zu stabilisieren, betreiben Staaten idealerweise eine antizyklische Fiskalpolitik: Im Abschwung steigern sie ihre Ausgaben, um die Konjunktur wiederzubeleben, im Boom sparen sie dagegen, um ihre Defizite abzubauen und die Bildung von wirtschaftlichen Blasen zu verhindern. Eines der europäischen Probleme besteht jedoch darin, dass die Staaten derzeit bei ihrer Fiskalpolitik nur die Konjunkturlage im eigenen Land, nicht der Eurozone als Ganzes im Blick haben. Bei asymmetrischen Schocks führt dies schnell zu Ungleichgewichten – wenn etwa in der aktuellen Krise die Staaten, die sich wie Deutschland höhere Ausgaben leisten könnten, dennoch sparen, weil sie ja selbst nicht von der Rezession betroffen sind.

Bereits 2011 wurde deshalb das „Europäische Semester“ eingeführt, bei dem die Regierungen der Mitgliedstaaten ihre Haushaltsentwürfe ein halbes Jahr vor deren Verabschiedung der Europäischen Kommission vorlegen müssen. Diese gibt dann „länderspezifische Empfehlungen“ ab, die zu einer Harmonisierung der Budgetpolitik führen sollen. Allerdings sind diese Empfehlungen bislang unverbindlich, und die ersten Erfahrungen deuten an, dass sich die Mitgliedstaaten (gerade auch die großen und reichen) nicht besonders darum scheren.

Van Rompuy schlägt deshalb nun vor, es künftig nicht bei unverbindlichen Empfehlungen zu belassen. Stattdessen sollen alle Euro-Staaten „mit der europäischen Ebene individuelle vertragliche Vereinbarungen über die von ihnen geplanten Reformen und deren Implementierung treffen“. Solche Abkommen gibt es derzeit bereits für die Staaten, die sich wie Griechenland, Portugal und Irland in einem EU-Hilfsprogramm befinden und sich dafür zu bestimmten Reformmaßnahmen verpflichtet haben. Wenn sie künftig allgemein gälten, müssten nicht mehr nur die Krisenstaaten, sondern auch die übrigen Länder die gesamteuropäischen Belange ernst nehmen – und die Europäische Kommission hätte ein starkes Mittel gewonnen, um Krisen künftig schon im Voraus zu verhindern.

Ein gemeinsames Budget für die Eurozone

Womöglich noch wichtiger ist aber der zweite Vorschlag Van Rompuys: Um eine „vernünftige Haushaltspolitik auf nationaler und europäischer Ebene sicherzustellen, die zu nachhaltigem Wachstum und makroökonomischer Stabilität führt“, schlägt der Ratspräsident nämlich auch die Einführung von „Mechanismen fiskalischer Solidarität, z.B. durch eine angemessene fiskalische Kapazität“ vor. Wie die Financial Times zu Recht feststellt, ist dieses etwas komplizierte Wortgebilde nichts anderes als eine verschlüsselte Formulierung für die Einführung eines gemeinsamen Budgets der Eurozone.

Tatsächlich ist dieser Vorschlag eines gemeinsamen Budgets alles andere als eine neue Idee, die auch in diesem Blog bereits wiederholt vorgebracht wurde. Der zugrunde liegende Gedanke wurde bereits 1969 von dem Ökonomen Peter Kenen formuliert: Das Hauptproblem einer Währungsunion sind asymmetrische Wirtschaftsschocks, von denen manche Regionen stärker betroffen sind als andere. Wenn die Krisenregionen eigene Währungen haben, würden diese in solch einem Fall abwerten, was die Exporte ankurbelt, die Konjunktur belebt und das ökonomische Gleichgewicht wiederherstellt. In einer Währungsunion entfällt diese Möglichkeit, wodurch das System instabil wird – doch ein gemeinsamer Haushalt (also ein gemeinsames Steuer- und Sozialsystem) bietet einen angemessenen Ersatz dafür: Bei einem asymmetrischen Schock nämlich steigen in den Krisenregionen die Sozialausgaben stärker an, während zugleich die Steuereinnahmen sinken. Über den gemeinsamen Haushalt kommt es deshalb zu einem Finanztransfer von den stabileren zu den schwächeren Regionen, was wiederum die dortige Konjunktur belebt und das Gleichgewicht wiederherstellt.

Der gemeinsame föderale Haushalt gilt deshalb auch als ein wesentlicher Grund, weshalb es den USA in der Finanzkrise so viel besser gelang, die Unterschiede zwischen ihren Regionen auszubalancieren als der Eurozone: Das Budget der Europäischen Union beträgt derzeit lediglich rund 1 Prozent des gesamten europäischen Bruttoinlandsprodukts, und war damit viel zu gering, um eine makroökonomische Stabilisierungsfunktion zu übernehmen. Wenn Van Rompuy nun eine „angemessene fiskalische Kapazität“ fordert, dann dürfte er genau diesen Effekt im Blick haben.

Deutsche und französische Unterstützung möglich

Lange Zeit sah es freilich alles andere als danach aus, als ob die Mitgliedstaaten bereit wären, einer bedeutenden Erhöhung des europäischen Budgets zuzustimmen. Schon vor Jahren forderten die das Europäische Parlament und die Kommission, in dem mehrjährigen Finanzrahmen für die Zeit 2014-2020 eine deutliche Steigerung des EU-Haushalts einzuplanen – was die Nettozahlerstaaten Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Finnland und die Niederlande Ende 2010 jedoch in einem gemeinsamen Brief vehement ablehnten.

Inzwischen jedoch scheint in den großen Ländern der Eurozone ein Umdenken eingesetzt zu haben. Der französische Finanzminister Pierre Moscovici (PS/SPE) etwa schlug erst vor wenigen Wochen eine gemeinschaftlich finanzierte Arbeitslosenversicherung in der Eurozone vor. Und auch die deutsche Bundesregierung könnte sich der Financial Times zufolge für derartige Ideen erwärmen, da sie inzwischen erkannt haben müsste, dass eine stabile Währungsunion ohne Finanztransfers nicht möglich ist – und eine Ausweitung des gemeinsamen Haushalts dann immer noch den ungeliebten Eurobonds vorziehen dürfte. Doch da die britische Regierung nach wie vor zu ihrer Verweigerungshaltung steht, wird die Lösung wohl nicht über den Haushalt der Europäischen Union insgesamt gehen, sondern über ein speziell einzurichtendes Eurozone-Budget. Aus diesem könnten dann, wie Van Rompuy vorschlägt, „die Reformbemühungen der Mitgliedstaaten mit begrenzten, temporären, flexiblen und gezielten Finanzanreizen unterstützt werden“. Konkret könnte man sich das vielleicht so vorstellen, dass die Eurozone künftig die Kosten für die Umschulung von Arbeitslosen übernimmt.

Demokratische Kontrolle

Ob und wie weit die Staats- und Regierungschefs den Vorschlägen Van Rompuys folgen, ist, wie gesagt, bis jetzt noch offen. Wie wirkungsvoll seine Pläne bei der Bekämpfung dieser und der Vermeidung künftiger Krisen sind, wird natürlich wesentlich davon abhängen, welchen Umfang das geplante Eurozone-Budget am Ende tatsächlich haben wird. Und vollkommen unklar ist bisher auch noch, wie es finanziert werden sollte: über Beiträge der Mitgliedstaaten, eine europäische Steuer oder eine europäische Sozialversicherung?

Was bereits jetzt deutlich scheint, ist aber, dass die Lösung der Eurokrise zuletzt mit einer bedeutenden Übertragung wirtschafts- und haushaltspolitischer Macht auf die europäische Ebene verbunden sein wird – und zwar, angesichts der britischen Verweigerung, wohl nicht auf die Ebene der EU, sondern der Eurozone. Das aber wirft zentrale Fragen der demokratischen Kontrolle auf, denn die makroökonomische Koordinierung und die Entscheidung über ein Milliardenbudget sind keine technischen, sondern hoch politische Fragen. Um noch einmal Van Rompuy zu zitieren: „Starke Mechanismen demokratischer Legitimität und Verantwortung sind notwendig. Einer der Leitgrundsätze ist in diesem Zusammenhang, dass demokratische Kontrolle und Zurechnung auf der Ebene ausgeübt werden, auf der die Entscheidungen getroffen werden.“

Mit anderen Worten: Nicht die nationalen Parlamente und die von ihnen gewählten Regierungen können eine gesamteuropäische Wirtschaftspolitik legitimieren, sondern nur die demokratisch gewählten supranationalen Organe selbst. Das aber wirft ein institutionelles Problem auf, denn während es für die Gesamt-EU durchaus ein gewähltes Parlament gibt, das die Verantwortung für die gemeinsamen wirtschaftspolitischen Entscheidungen übernehmen könnte, besitzt die Eurozone bislang keine eigenen demokratischen Organe. Wenn man sich daranmacht, die Macht in der europäischen Währungsunion zu bündeln, muss man also auch die Frage beantworten, in welchem institutionellen Rahmen sie künftig ausgeübt werden soll. Dazu bei Gelegenheit mehr.

Bild: By European People's Party (EPP Summit 19 March 2009) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.

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