04 März 2013

Die „europäische Agora“, die Online-Konsultationen der EU und die repräsentative Demokratie

Die Organe geben den Bürgerinnen und Bürgern und den repräsentativen Verbänden in geeigneter Weise die Möglichkeit, ihre Ansichten in allen Bereichen des Handelns der Union öffentlich bekannt zu geben und auszutauschen.

Auf der Agora in Ephesos wird heute auch keine Politik mehr gemacht.
Die große Europa-Rede, die der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck vor zehn Tagen gehalten hat (Wortlaut), ist heute schon fast in Vergessenheit geraten, was wohl die Annahme bestätigt, dass sie die europapolitische Debatte nicht so besonders weit vorangebracht hat. Dennoch möchte ich hier gerne noch einmal auf einen bestimmten Punkt zurückkommen, den Gauck in seiner Ansprache hervorhob: die Idee einer „europäischen Agora“. Diesem Konzept liegt nämlich, wie mir scheint, ein bestimmtes Verständnis partizipativer Demokratie zugrunde, das auch in der Europäischen Kommission verbreitet ist – und das verkennt, wie moderne Demokratien funktionieren und worin das Akzeptanzproblem der Europäischen Union in Wirklichkeit besteht.

Joachim Gauck und die Europäische Kommission

Wörtlich erklärte Gauck in seiner Rede, sein „Wunschbild für das künftige Europa“ sei
eine europäische Agora, ein gemeinsamer Diskussionsraum für das demokratische Miteinander. Diese Agora wäre noch umfassender als die Schülerinnen und Schüler sie vielleicht aus dem Geschichtsbuch kennen, den im antiken Griechenland zentralen Versammlungsort, Kult- und Gerichtsplatz gleichzeitig, einen Ort des öffentlichen Disputs, wo um das geordnete Zusammenleben gerungen wurde.
Für die EU heute, so Gauck weiter, sei „ein erweitertes Modell“ dieser Agora notwendig, wobei er insbesondere eine ausführlichere Europa-Berichterstattung in den Medien vor Augen hatte. Die „Akteure auf der Agora“ aber bleiben für ihn „die Bürger“, die man „nicht als untertänig, desinteressiert und unverständig abtu[n]“ dürfe. Notwendig sei „mehr europäische Bürgergesellschaft“: Die EU habe „es verdient, dass ihre Bürgerinnen und Bürger Interesse zeigen und sich informieren“, und jeder Einzelne müsse sich viel stärker einbringen, denn: „Ein besseres Europa entsteht nicht, wenn wir die Verantwortung dafür immer nur bei anderen sehen.“

Ich selbst habe dieses Argument Gaucks zunächst etwas spöttisch damit abgetan, dass „die Legitimationsprobleme der Europäischen Union womöglich doch ein bisschen tiefer gehen, als dass man sie allein auf ignorante Medien oder faule Bürger zurückführen könnte“. Wenige Tage nach der Rede jedoch nahm ich an einer Veranstaltung teil, bei der über die umstrittene EU-Konzessionsvergaberichtlinie diskutiert wurde, die in Deutschland zu einer reichlich irrationalen Furcht vor einer Privatisierung der Wasserversorgung geführt hat. Mit dabei war auch eine Vertreterin der Europäischen Kommission, die sehr freundlich und vernünftig erklärte, welche Absichten ihre Institution beim Vorschlag der Richtlinie gehabt hatte. Etwas ratlos reagierte sie jedoch auf die Frage, was denn eigentlich schiefgegangen war, dass die Bedenken in der Bevölkerung nicht schon viel früher in der Wahrnehmung der europäischen Entscheidungsträger angekommen waren. Die Kommission jedenfalls, so betonte sie glaubwürdig, nehme die Sichtweise der europäischen Bürger immer wichtig, sie bemühe sich um maximale Transparenz und sie könne jeden Einzelnen nur einladen, sich an den Online-Konsultationen zu beteiligen, die regelmäßig vor wichtigen Politikvorschlägen durchgeführt werden. Der Bundespräsident hätte es wohl kaum schöner sagen können.

Partizipative Demokratie auf europäischer Ebene

Und tatsächlich: Die supranationalen Organe der Europäischen Union sind transparenter und bieten mehr Partizipationsmöglichkeiten als in so manchem Mitgliedstaat auf nationaler Ebene üblich ist. Die „legislative Beobachtungsstelle“ des Europäischen Parlaments ermöglicht es, europäische Gesetzgebungsverfahren detailliert mitzuverfolgen. Auf der Homepage des Parlaments wird jede noch so langweilige Ausschusssitzung live als Video übertragen (natürlich simultan gedolmetscht). Schon seit zwei Jahrzehnten haben europäische Bürger ein Petitionsrecht sowie die Möglichkeit, sich an den Europäischen Bürgerbeauftragten zu wenden. Und dann gibt es eben noch die erwähnten Online-Konsultationen, die 2003 unter Kommissionspräsident Romano Prodi (Dem./ELDR) eingeführt wurden, mit dem expliziten Ziel, dass vor wichtigen Initiativen eine möglichst große Zahl von Betroffenen möglichst früh ihre Meinung unterbreiten kann, sodass der Kommissionsvorschlag bereits ein möglichst abgewogener Kompromiss zwischen möglichst vielen Interessen ist. Entsprechend trägt die zu diesem Zweck eingerichtete Homepage dann auch den schönen Titel „Ihre Stimme in Europa“.

Haben wir hier also nicht unsere „europäische Agora“? Zwar vielleicht kein Kult- und Gerichtsplatz, aber doch ein Forum, wo sich die Bürger einbringen können, um, ganz wie Joachim Gauck es wünscht, im öffentlichen Disput um das geordnete Zusammenleben zu ringen? Und kann man es der Europäischen Kommission zum Vorwurf machen, dass kaum ein Normalbürger schon von diesen Kommunikationskanälen gehört – geschweige denn sie jemals genutzt hat? Ist es also wirklich nur ein Mangel an Information und Gestaltungswille, der die europäischen Bürger davon abhält, ihrer Stimme in Brüssel Gehör zu verschaffen?

Aufmerksamkeitsökonomie

Worin nach meinem Eindruck das Missverständnis bei den Verfechtern einer partizipatorisch-deliberativen Demokratie auf europäischer Ebene besteht, sind die Bedingungen, unter denen Politik in modernen Gesellschaften betrieben wird. Diese unterscheiden sich fundamental von jenen der altgriechischen Demokratien. Nicht nur ist unser politisches System mit rund 500 Millionen Bürgern etwas größer als ein Stadtstaat, in dem man sich mal eben so auf dem Marktplatz trifft. Noch wichtiger ist, dass die allermeisten dieser Bürger auch sehr viel weniger Gelegenheit haben, um sich mit Politik zu beschäftigen: Denn die erwachsenen, freien Männer, die sich auf der Agora versammelten, um über ihre gemeinsamen Angelegenheiten zu diskutieren, hatten dafür vor allem deshalb so viel Zeit, weil sich um die wirtschaftlichen Tätigkeiten ihre vom politischen Prozess ausgeschlossenen Frauen und Sklaven kümmerten. Wir heute hingegen müssen selbst arbeiten, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen, und nur ein kleiner Teil von uns hat das Glück, sich bei seiner Arbeit mit Europapolitik beschäftigen zu können.

Und schließlich ist auch die Art der politischen Entscheidungen inzwischen sehr viel komplexer, als sie in der Antike war. Das politische System ist heute zu einer gesellschaftlichen Feinsteuerung fähig, wie sie sich Demosthenes oder Perikles nicht im Traum hätten vorstellen können: Unsere Gesetze unterscheiden nicht nur zwischen Erlaubt und Verboten, sondern setzen differenzierte Anreizsysteme für soziales Verhalten; unsere Außenpolitik besteht nicht nur aus Frieden und Krieg, sondern aus hunderten Abstufungen der Zusammenarbeit; und unser Umweltrecht regelt den Gebrauch von Chemikalien, von denen nur Experten überhaupt die Namen kennen. Wollte ein einzelner Bürger sich in alle Themen einarbeiten, von denen er selbst betroffen ist, er käme niemals zu einem Ende. Insofern ist es durchaus vernünftig, wenn er sparsam mit seiner Aufmerksamkeit umgeht, einen großen Teil der Politik den Spezialisten überlässt und erst aktiv wird, wenn er einen besonderen Anlass dafür sieht.

Stärke der repräsentativen Demokratie

Genau hier liegt die Stärke der modernen repräsentativen Demokratie, wie sie seit dem 18. Jahrhundert auf Ebene der Nationalstaaten verwirklicht wurde: Sie ermöglicht es, politische Entscheidungen an den Willen der Bürger zurückzukoppeln, ohne diese täglich damit zu belästigen. Die gewählten Abgeordneten und Regierungsmitglieder haben die Möglichkeit, ihre volle Arbeitskraft der Politik zu widmen und sich thematisch zu spezialisieren; gleichzeitig haben sie durch die Wahlen einen Anreiz, ihre Tätigkeit an den Interessen der Bürger auszurichten. Vor allem aber bietet die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Parteien, zwischen Regierung und Opposition im Parlament, einen Deutungsrahmen für die öffentliche Auseinandersetzung, der die enorme Komplexität der Politik auf ein paar einfache Gegensätze reduziert.

Für den Bürger bringt das eine ganze Reihe von Vorteilen: Wer sich für familienpolitische Fragen nur am Rande interessiert, muss nicht alle Verästelungen des Ehe-, Adoptions- und Unterhaltsrechts kennen. Dennoch kann er sich eine Vorstellung davon machen, worin die wesentlichen Unterschiede zwischen dem sozial- und dem christdemokratischen Familienbild liegen, und diese in seine Wahlentscheidung mit einfließen lassen. Zudem muss der Bürger nicht ständig selbst überprüfen, ob die Regierung bei einer ihrer zahlreichen Initiativen womöglich gegen die Interessen der Bevölkerung handelt, sondern kann sich darauf verlassen, dass die Opposition schon Alarm schlagen wird, wenn sie sich daraus Vorteile bei der Wählerschaft verspricht. Für die Medien wiederum bietet dieser Antagonismus zwischen Regierung und Opposition die Möglichkeit zu spannenden Geschichten: Mit einem zünftigen parlamentarischen Streit lässt sich (anders als mit dem Ergebnis von Online-Konsultationen) eine gewisse Einschaltquote erzielen, sodass wenigstens die wichtigsten Auseinandersetzungen auch beim nur mäßig interessierten Tagesschau-Konsumenten ankommen werden.

Was die EU braucht, ist mehr Parlamentarismus

Dies bedeutet nicht, dass partizipative Elemente nicht auch ihren Sinn im demokratischen System hätten. Denn natürlich gibt es immer auch Bürger, die für einen bestimmten politischen Zweck mehr Zeit und Energie aufwenden wollen, ohne deshalb gleich zum Vollzeitpolitiker zu werden. Interessenverbände, Bürgerinitiativen oder die Ortsvereine der Parteien können die Tätigkeiten solcher Bürger zu sinnvollen Aktionen bündeln, und auch Straßendemonstranten, Leserbriefschreiber und Blogger tragen (hoffentlich) zu einer nützlichen Fortentwicklung des politischen Diskurses bei.

Aber es scheint mir ein Irrtum zu sein, wenn man bei der Weiterentwicklung des europäischen politischen Systems primär auf solche partizipativen Formen setzen wollte. Denn das schöne Wort der „Bürgergesellschaft“ verkennt, dass sich in modernen Gesellschaften ein großer Teil der Bevölkerung mit guten aufmerksamkeitsökonomischen Gründen nur wenig für die Politik interessiert. Eine massive Mobilisierung, aus der sich dann auch unmittelbare politische Legitimität ableiten lässt, gibt es unter solchen Umständen nur selten – nämlich wenn wirklich entscheidende Fragen zur Entscheidung stehen, ohne dass das politische System in der Lage ist, dafür angemessene Antworten zu bieten. Ein Beispiel für einen solchen Fall war die friedliche Revolution von 1989, und diese prägende Erfahrung mag auch den Fokus in der Rede von Joachim Gauck erklären.

Die alte Konsensmaschine EU aber wird ihre Bürger kaum durch das Angebot von Online-Konsultationen von sich überzeugen können, und sie hat auch keine Revolution nötig, um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung zu gewinnen. Was sie dafür braucht, ist vielmehr eine Stärkung der repräsentativen Demokratie: ein wenig guter alter Parlamentarismus, der die Komplexität des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf einen leicht verständlichen Gegensatz von Wahlalternativen reduziert und gerade dadurch einem großen Teil der Bevölkerung die Teilnahme an der Politik ermöglicht.

Bild: By CherryX (Own work) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.

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