29 Mai 2013

Die globalen Parteien und ihre Rolle in der Weltpolitik

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel (nicht im Bild) wollte auch mal eine Internationale gründen.
Als im Dezember 2010 die tunesische Revolution ausbrach, setzte das nicht nur die despotisch herrschenden Präsidenten der arabischen Welt unter Druck, sondern auch die Sozialistische Internationale (SI): Der sozialdemokratische Weltverband musste nämlich bestürzt feststellen, dass sie die Parteien der nordafrikanischen Diktatoren, die da von ihrer Bevölkerung gestürzt wurden, auf ihrer Mitgliederliste führte. Etwas überstürzt machte man sich deshalb daran, die tunesische RCD und die ägyptische NDP, später auch die ivorische FPI auszuschließen. Doch einigen Mitgliedsparteien ging das nicht weit genug: Insbesondere der Vorsitzende der deutschen SPD (SPE), Sigmar Gabriel, machte sich im März 2011 für eine grundlegende Reform stark, um die SI ein für alle Mal von ihren autoritären Mitgliedern zu befreien und wieder „politisch relevant“ zu machen. Diese Forderung zog jedoch offenbar nicht die gewünschten Folgen nach sich, sodass die SPD ab 2012 die Gründung eines neuen globalen Bündnisses vorantrieb. Am vergangenen Mittwoch schließlich war es so weit: Auf einem Kongress in Leipzig wurde die „Progressive Allianz“ (PA) aus der Taufe gehoben.

Die PA: neue Mitglieder, aber kein Unterbau

Vergleicht man die Mitgliedschaft der PA und der SI, dann stellt man zunächst eine recht große Übereinstimmung fest: Die meisten prominenten sozialdemokratischen Parteien sind in beiden Organisationen vertreten. Dass die Mitgliederliste der PA nur knapp halb so lang ist, liegt in erster Linie daran, dass viele Parteien aus kleineren Staaten, besonders aus Entwicklungsländern fehlten. Für Außenstehende ist dabei nicht immer zu erkennen, ob diese Parteien gezielt nicht eingeladen wurden oder nur zufällig nicht nach Leipzig kamen. Mit dem nicaraguanischen FSLN und dem angolanischen MPLA waren zwei bekannte SI-Problemmitglieder jedenfalls abwesend; mit der palästinensischen Fatah und dem Gerechten Russland allerdings zwei andere, ebenfalls nicht unumstrittene Parteien weiterhin dabei.

Vor allem jedoch nehmen an der PA auch einige einflussreiche Parteien teil, die nicht der SI angehören – insbesondere die US-amerikanischen Demokraten. Offensichtlich spielte hier der neue Name eine gewisse Rolle: Obwohl die Partei Barack Obamas in ihrer politischen Ausrichtung klare Überschneidungen mit den europäischen Mitte-links-Parteien zeigt, wäre für sie schon wegen des Reizworts „sozialistisch“ eine SI-Mitgliedschaft wohl auf absehbare Zeit nicht in Frage gekommen, wogegen die Selbstbezeichnung als „progressiv“ auf beiden Seiten des Atlantiks salonfähig ist.

Diese Beteiligung der US-Demokraten, aber auch des indischen INC oder der italienischen PD, ist bislang wohl der wichtigste Trumpf der PA bei dem Ziel, „politisch relevant“ zu werden. Ihre größte Schwäche hingegen dürfte (wie auch Matthias Ecke feststellt) der fehlende organisatorische Unterbau sein. Wohl um nicht zu sehr in Konkurrenz zur alten SI zu treten, hat die PA keinen eigenen Präsidenten, kein Sekretariat und keine Postadresse: Sie versteht sich nicht als supranationale Organisation, sondern lediglich als „Netzwerk“ ihrer Mitgliedsparteien. Einmal im Jahr zu einer gemeinsamen Konferenz zusammenzukommen, wird jedoch kaum genügen, um der PA zu dauerhafter Präsenz und Einfluss auf der politischen Weltbühne zu verhelfen.

Die selbstverständliche Bedeutungslosigkeit der globalen Parteien

Andererseits: Welche globale Partei kann derzeit überhaupt von sich behaupten, dauerhafte Präsenz und Einfluss auf der politischen Weltbühne zu haben? Denn es ist ja nicht so, dass sich nur die Sozialdemokraten in einem weltweiten Verband organisiert hätten. Vielmehr kann man inzwischen geradezu von einem globalen Parteiensystem sprechen: Neben SI und PA gibt es noch die Liberale Internationale (LI, gegründet 1947), die Christlich Demokratische Internationale (CDI, 1961), die Internationale Demokratische Union (IDU, 1983), die Globalen Grünen (GG, 2001), die Internationale der Piratenparteien (PPI, 2010) sowie weitere kleinere Bündnisse. (Mit CDI und IDU gibt es übrigens im konservativen Spektrum eine ähnliche Dopplung wie mit SI und PA im sozialdemokratischen: Die Europäische Volkspartei und zahlreiche andere Mitglieder sind in beiden Organisationen vertreten; die IDU umfasst allerdings auch die US-Republikaner und ist insgesamt etwas weiter rechts positioniert.)

Auf den ersten Blick haben diese Vereinigungen alles, was eine Partei so braucht: Jede von ihnen (mit Ausnahme der PA) hat einen Vorstand mit einem Präsidenten und vielen Vizepräsidenten; jede von ihnen hält alle ein bis zwei Jahre einen Parteitag ab, der als wichtigstes Beschlussorgan fungiert und bei dem sich Delegierte der nationalen Mitgliedsorganisationen versammeln; und vor allem hat jede von ihnen ein mehr oder weniger detailliertes politisches Programm, in dem sie ihre Visionen und Ziele für die Welt formuliert hat.

Dennoch sind die globalen Parteien den allermeisten Menschen vollkommen unbekannt, und in der öffentlichen Debatte über weltpolitische Fragen spielen sie fast keine Rolle. Stattdessen haben wir uns angewöhnt, allein die nationalen Regierungen als die entscheidenden Akteure der globalen Politik zu verstehen. So war in den letzten Monaten zum Beispiel viel davon die Rede, dass die EU, die USA, die Staatengemeinschaft dem syrischen Bürgerkrieg ratlos gegenübersteht. Dass sich bis jetzt auch keine einzige globale Partei in dieser aktuellen Frage zu einer Positionierung durchgerungen hat, war in den Medien hingegen nicht zu lesen. Es kommt uns einfach selbstverständlich vor. Aber warum eigentlich?

Gesellschaftliche Gegensätze verlaufen quer zu nationalen Grenzen

Eine ebenso einfache wie falsche Erklärung scheint mir zu sein, dass es in der Weltpolitik eben nur auf nationale Interessen ankommt und dass weltanschauliche Unterschiede, wie sie die Parteien repräsentieren, auf überstaatlicher Ebene schlicht keine Rolle spielen. Tatsächlich ist dies eine der traditionellen Grundannahmen der „realistischen“ Schule in den Internationalen Beziehungen, doch bei näherer Betrachtung wirkt sie mehr als unplausibel. Die sozialen Gegensätze etwa zwischen Stadt- und Landbevölkerung, zwischen Religion und Laizismus oder zwischen Kapitalbesitzern und Arbeitnehmern, die die politischen Konflikte der Moderne prägten und die Parteiensysteme formten, endeten noch niemals an nationalen Grenzen; und je mehr sich die Gesellschaften im Zuge der Globalisierung transnational verflechten, desto weniger.

Anders formuliert: Ein wohlhabender, atheistischer Apotheker in München teilt in der Regel deutlich mehr politische Interessen mit einem wohlhabenden, atheistischen Apotheker in Buenos Aires als mit einem katholischen Landwirt in Niederbayern oder einem arbeitslosen Augsburger Fabrikarbeiter. Unter dem Slogan „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ lag dieser Gedanke bereits der Gründung der ersten Internationalen, der kommunistischen IAA von 1864, zugrunde. Und auch wenn die heutigen globalen Parteien natürlich nicht mehr der Idee eines revolutionären Klassenkampfes, sondern eher der eines friedlichen demokratischen Wettbewerbs anhängen, bleibt das Argument berechtigt, dass die politisch relevanten Gegensätze in den modernen Gesellschaften quer zu territorialen Grenzen liegen und es nur angemessen wäre, wenn sich dies auch in den Formen politischer Repräsentation niederschlagen würde.

Dass die nationalen Regierungen im Mittelpunkt der internationalen Politik stehen, ist also keineswegs zwingend; mehr noch: Aller Wahrscheinlichkeit nach wären wir Bürger und unsere verschiedenen Interessen dort durch die globalen Parteien weitaus besser vertreten. Worin also liegt der entscheidende Unterschied, durch den Parteien auf nationalstaatlicher Ebene so erfolgreich sind und auf globaler Ebene so irrelevant?

Parteien brauchen Parlamente

Eine Antwort auf diese Frage scheint mir im institutionellen Kontext zu liegen: Was die nationalen Parteien für das demokratische Leben so bedeutend macht, ist ihre Rolle in den nationalen Parlamenten. Tatsächlich war schon die Entstehung der modernen Parteien im 18./19. Jahrhundert eine Folge der Parlamentarisierung. Sowohl in den USA als auch in Europa bildeten sie sich aus parlamentarischen Klubs heraus, in denen ähnlich gesinnte Abgeordnete zunächst nur lose zusammenarbeiteten, um bestimmte gemeinsame Ziele zu erreichen. Für die einzelnen Abgeordneten war dies mit Einschränkungen ihrer persönlichen Überzeugungen verbunden, brachte aber zugleich den Vorteil, sich bei Abstimmungen öfter in der Mehrheit zu befinden. Und da mit zunehmender Macht der Parlamente stabile Mehrheiten immer wichtiger wurden, gewannen auch die Parteien an Bedeutung.

Zum eigentlichen Machtfaktor wurden die Parteien dann im Wahlkampf, wo sie ihren Abgeordneten durch die Bereitstellung finanzieller und organisatorischer Unterstützung entscheidende Vorteile bieten konnten, diese zugleich aber auch immer mehr von sich abhängig machten. Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts waren die Parteien schließlich zur zentralen Vermittlungsinstanz zwischen Bürgern und Politikern geworden. Indem sie die Abgeordneten der Fraktionsdisziplin unterwarfen, reduzierten sie die Komplexität des politischen Systems – und erleichterten dadurch letztlich auch dem Wähler die Entscheidung.

Kaum Anreize, auf die globalen Parteien zu achten

Jenseits des Nationalstaats jedoch fehlen diese Mechanismen weitgehend: Lediglich in der EU gibt es mit dem Europäischen Parlament ein direkt gewähltes supranationales Organ, das in parteipolitisch ausgerichtete Fraktionen gegliedert ist und über echte Gesetzgebungsmacht verfügt; und es ist deshalb nicht besonders überraschend, dass mit seinem institutionellen Aufstieg seit den 1990er Jahren auch die europäischen Parteien immer wichtiger wurden. Auf globaler Ebene jedoch werden die wichtigsten Entscheidungen nicht von Parlamenten, sondern von intergouvernementalen Gremien getroffen, die sich aus den Vertretern nationaler Regierungen zusammensetzen. Wo es aber kein einflussreiches Parlament gibt, entfällt die Notwendigkeit, stabile parlamentarische Mehrheiten zu sichern; und wo keine Wahllisten aufgestellt werden, haben die Parteien auch keine Sanktionsmöglichkeit, um ihre Mitglieder auf eine gemeinsame Linie zu verpflichten.

Für Politiker, die im NATO-Rat, auf der WTO-Konferenz oder in der Generalversammlung der Vereinten Nationen Beschlüsse fassen, gibt es deshalb kaum einen Anreiz, sich bei ihrem Handeln an den Positionen der globalen Parteien zu orientieren. Ihre Loyalität wird vielmehr vor allem denjenigen gelten, denen sie auch durch institutionelle Mechanismen Rechenschaft ablegen müssen: eben den nationalen Regierungen, den nationalen Parteien, die diese Regierungen bilden, und letztlich der nationalen Wählerschaft, der sich die nationalen Parteien stellen müssen. Und darum ist der Maßstab in der Weltpolitik am Ende meistens das nationale Interesse – und nicht jene anderen sozialen Gegensätze in der transnationalen Gesellschaft, die die globalen Parteien repräsentieren.

Was globale Parteien tun können

Wie können die globalen Parteien darauf reagieren? Eine Möglichkeit besteht sicher darin, sich in die Verhältnisse zu fügen, die internationalen Organisationen den nationalen Regierungen zu überlassen und sich stattdessen auf jene Bereiche der globalen Politik zu konzentrieren, die außerhalb formeller Institutionen stattfinden. Das Gründungsdokument der Progressiven Allianz etwa spricht zwar vage davon, zur „Entstehung einer kooperativen Weltordnung“ beitragen zu wollen, doch konkrete Hinweise auf deren institutionelle Ausgestaltung sucht man vergeblich. Stattdessen beschränken sich die Pläne der PA im Wesentlichen auf Aktivitäten, wie man sie auch von politischen Stiftungen kennt: etwa den Austausch von best practices zur Parteiorganisation, die Veranstaltung von Diskussionsveranstaltungen oder (immerhin!) die Unterstützung der Mitgliedsparteien bei nationalen Wahlkämpfen.

Nun sind das alles natürlich honorige Vorhaben, mit denen man gewiss auch einiges Gutes bewirken kann. Ein wenig scheint es mir dennoch, dass die PA damit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Wer als globale Partei „politisch relevant“ sein will, der sollte wenigstens den Anspruch aufrechterhalten, auch einmal auf globaler Ebene die Funktion einer Partei zu erfüllen und bei globalen Wahlen in ein globales Parlament einzuziehen – auch wenn dieses globale Parlament erst noch geschaffen werden muss. Die Liberalen, die Grünen, die Piraten und die SI haben es schon einmal vorgemacht.

Bild: By Kentin [Public Domain], via Wikimedia Commons.

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