07 August 2013

Die Bundestagswahl und Europa (4): Wachstum, Beschäftigung, Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte

Bei der Bundestagswahl im kommenden September wählen die Deutschen nicht nur ihre nationalen Abgeordneten, sondern auch ihre Vertreter in den intergouvernementalen EU-Organen. Welche Alternativen stehen dabei zur Auswahl? In einer Sommerserie vergleicht dieses Blog die europapolitischen Vorschläge in den Wahlprogrammen der Bundestagsparteien – CDU/CSU (EVP), SPD (SPE), FDP (ALDE), Grüne (EGP) und Linke (EL). Heute: Wirtschaftspolitik. (Zum Anfang der Serie.)

Die Herausforderung

Vor dem Arbeitsamt Schlange zu stehen gehört für immer mehr Europäer zum grauen Alltag.
Im Mai 2013 betrug die Arbeitslosenquote in der EU 11,0 Prozent, in der Eurozone sogar 12,2 Prozent – der höchste Wert seit Gründung der Union. Dass dies kaum auf mediale Aufmerksamkeit stieß, mag daran liegen, dass die Arbeitslosigkeit in der EU schon seit Mitte 2011 fast jeden Monat ein neues Rekordhoch erreicht hat. In absoluten Zahlen wurde vor etwas mehr als einem Jahr die Fünfundzwanzig-Millionen-Grenze überschritten. Und auch wenn sich die Werte im Juli leicht gebessert haben, kann kein Zweifel bestehen: Europa steckt nach wie vor in einer der tiefsten Wirtschaftskrisen, die es je erlebt hat.

Gleichzeitig allerdings wirkt sich diese Krise auf die einzelnen Staaten sehr unterschiedlich aus. In Deutschland etwa ist die Arbeitslosigkeit im letzten Jahr sogar leicht gesunken und liegt nun bei knapp über 5 Prozent (sodass einige Politiker schon von Vollbeschäftigung träumen). Umso schlimmer ist die Lage in Spanien oder Griechenland, beide mit einer Quote von über 25 Prozent. Besonders fatal ist die Lage bei den Unter-25-Jährigen: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt europaweit bei 23,3, in Spanien und Griechenland aber über 55 Prozent.

Die Europäische Union – und damit auch die nächste deutsche Bundesregierung – steht deshalb nicht nur vor der Herausforderung, die europäische Wirtschaft allgemein wieder in Fahrt zu bringen und Wachstum und Beschäftigung zu schaffen. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, wie mit den großen ökonomischen Ungleichgewichten zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten umzugehen ist. Denn dass sich die verschiedenen Länder der Eurozone so stark auseinander entwickelt haben, ist wenigstens zum Teil eine Folge davon, dass es automatische interregionale Stabilisatoren, die innerhalb von Nationalstaaten derartige Disparitäten verhindern, auf europäischer Ebene nicht gibt. Doch was dafür zu tun ist, ist nicht nur zwischen der deutschen und französischen Regierung, sondern auch unter den deutschen Parteien umstritten.

Bessere wirtschaftliche Koordinierung

Grundsätzlich besteht im Bundestag zwar ein Konsens darüber, dass die Wirtschaftspolitik der verschiedenen Euro-Länder besser aufeinander abgestimmt werden soll. Doch schon bei der genauen Zielsetzung zeigen sich feine Unterschiede: So fordert die SPD in ihrem Wahlprogramm eine „europäische Wachstumsstrategie“, während CDU/CSU und FDP vor allem davon sprechen, dass durch eine verstärkte Koordinierung die „Wettbewerbsfähigkeit“ der Mitgliedstaaten erhöht werden soll. Die Grünen wollen einen „europäischen Green New Deal“, der Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellt. Und der Linken geht es hauptsächlich darum, „dass der heute vorherrschende Wettbewerb durch Steuer-, Sozial- und Lohndumping unterbunden wird“.

Auch bei der Wahl der Mittel sind sich die Parteien nicht ganz einig: Formell liegt die Zuständigkeit für die meisten wirtschaftspolitischen Entscheidungen bislang bei den nationalen Parlamenten; die Europäische Kommission gibt im Rahmen des „europäischen Semesters“ lediglich länderspezifische Empfehlungen ab, die jedoch unverbindlich sind und von den Mitgliedstaaten oft genug nicht eingehalten werden. Die meisten Parteien wollen dem irgendwie abhelfen, ohne jedoch besonders klare Konzepte vorzuschlagen. Geht es nach der CDU/CSU, sollen sich künftig die einzelnen Mitgliedstaaten in individuellen Vereinbarungen mit der Europäischen Kommission auf bestimmte Maßnahmen verpflichten. Die SPD hingegen fordert eine „parlamentarisch kontrollierte Wirtschaftsregierung“, in der „Europäisches Parlament und nationale Parlamente weiter gestärkt werden“ – ohne allerdings zu erklären, wie genau.

Die Grünen wiederum setzen vor allem auf den Währungskommissar, der künftig direkt vom Europäischen Parlament gewählt werden und den Vorsitz in der Eurogruppe und dem Finanzministerrat ausüben soll. Unklar bleibt dabei allerdings, wie weit sein Einfluss auf die nationale Wirtschaftspolitik reichen soll: Etwas kryptisch heißt es im Wahlprogramm nur, der Währungskommissar solle „keine Gesetze ohne Zustimmung des Europäischen Parlaments erlassen dürfen“.

Keine Vorschläge machen schließlich FDP und Linke. Während die FDP sich überhaupt nicht dazu äußert, wie eine bessere wirtschaftspolitische Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten verwirklicht werden soll, stellt sich die Linke lediglich gegen die „Einschränkung der Rechte der nationalen Parlamente“ sowie gegen den Plan, „die EU-Kommission zu einem sanktionsbewehrten Kontrollinstrument […] zu machen“. Wie genau die Linke dann ihr eigenes Ziel einer europaweiten Abstimmung von „Wirtschafts-, Fiskal-, Steuer-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitiken“ durchsetzen will, bleibt offen.

Förderung von Wachstum und Beschäftigung

Etwas klarer, aber nicht weniger disparat sind die Vorschläge, was konkret getan werden könnte, um das Wachstum in der Eurozone wieder anzukurbeln. Für CDU/CSU und FDP lautet das Zauberwort „Strukturreformen“; beide Parteien würden dafür vor allem das in Deutschland erfolgreiche duale System bei der Berufsausbildung gerne in andere Staaten exportieren. CDU/CSU und SPD wollen den Mittelstand stärken, indem sie Bürokratie abbauen, Verwaltungswege verkürzen und bei EU-Verordnungen Ausnahmeregelungen für kleine und mittlere Unternehmen einführen; außerdem wollen beide Parteien europaweit mehr Geld für Bildung und Forschung ausgeben. Investitionen in Zukunftstechnologien werden in den Wahlprogrammen von CDU/CSU und Grünen genannt. Außerdem wollen diese beiden Parteien durch eine leichtere Anrechnung von Bildungsabschlüssen und Sozialansprüchen die Integration des Europäischen Arbeitsmarkts fördern. (Allerdings will die CDU/CSU gleichzeitig auch „Eingriffe durch europäisches Recht auf die betriebliche Altersvorsorge […] verhindern“, was zumindest die Anrechnung von Rentenansprüchen erschweren dürfte.) Die FDP möchte eine „Europäische Privatgesellschaft, also die Europa-GmbH“ einführen und damit dem „exportstarken deutschen Mittelstand“ helfen. Die Linke ist für „steigende Löhne und sozial-ökologische Investitionsprogramme“.

Insbesondere die drei Oppositionsparteien wollen zudem die Mittel der EU aufstocken, um daraus gesamteuropäische Investitionsprogramme zu finanzieren. So plant die SPD eine „Aufwertung der Europäischen Investitionsbank“ sowie einen „Europäischen Investitions- und Aufbaufonds“, der europaweit Programme zur „Förderung eines nachhaltigen und tragfähigen Wachstums, zur Stärkung der Binnennachfrage sowie zur Förderung von gerecht entlohnter Beschäftigung“ durchführen soll. Die Grünen wollen „einen gestärkten Haushalt, der den wachsenden Aufgaben der Union Rechnung trägt“. Die Linke wiederum spricht von einem „Investitionsprogramm, das vor allem auf Entwicklung im Bereich öffentlicher und sozialer Dienstleistungen und sozial-ökologische Konversion setzt“ und zitiert den vom Deutschen Gewerkschaftsbund geforderten „Marshall-Plan für Europa“.

Besonderes Augenmerk legen alle Programme auf die grassierende Jugendarbeitslosigkeit und die „Jugendgarantie“, die die EU vor wenigen Wochen vereinbart hat. Die meisten Parteien sind sich in dieser Frage völlig einig: CDU/CSU, SPD, Grüne und Linke sind dafür, dass Sofortmaßnahmen zur Jugendbeschäftigung aus dem EU-Etat finanziert werden. Unzufrieden ist nur die FDP:
Staatlich finanzierte Beschäftigungsprogramme, wie die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene „Jugendgarantie“, halten wir für ordnungspolitisch falsch.
Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte

Uneinig sind sich die Parteien schließlich auch, wie mit den Ungleichgewichten zwischen den Ländern der Eurozone umzugehen ist. In den Mittelpunkt stellen die Wahlprogramme die deutschen Exportüberschüsse, die in den Jahren vor der Krise immer weiter gestiegen sind, während sich gleichzeitig die südeuropäischen Staaten in einem Investitions- und Nachfrageboom befanden und immer größere Leistungsbilanz-Defizite anhäuften. Was lässt sich tun, um diese makroökonomischen Ungleichgewichte auszubalancieren, die als eine der wichtigsten Ursachen der Eurokrise gelten?

Für die CDU/CSU ist das Problem gelöst, wenn nur alle Länder immer weiter ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern: Ziel sei es, „die Schwachen zu stärken und die Leistung der Besten zum Maßstab für alle zu machen“. Auch die FDP sieht vor allem die anderen Staaten in der Pflicht und lehnt „Beschränkungen des deutschen Exports oder Sanktionen wegen unserer Außenhandelsüberschüsse“ ab. Die drei Oppositionsparteien hingegen sehen die makroökonomischen Ungleichgewichte als gemeinsames Problem aller Mitgliedstaaten, zu dessen Lösung deshalb auch die Überschussländer einen Beitrag leisten sollen. Grüne und Linke nennen dazu auch gleich das Mittel ihrer Wahl: Notwendig sei es, in den Überschussländern die Binnennachfrage zu stärken – aktuell vor allem durch die Einführung eines Mindestlohns und höherer Sozialleistungen in Deutschland.

Die Einführung automatischer Stabilisatoren – etwa in Form eines Konjunkturausgleichsfonds oder einer europäischen Arbeitslosenversicherung, wie ich sie in diesem Blog beschrieben habe – wird hingegen in keinem der fünf Wahlprogramme thematisiert. (Nur die SPD deutet eine Ablehnung der europäischen Arbeitslosenversicherung an, wenn sie sich gegen eine „Vereinheitlichung der bewährten nationalen Sozialsysteme“ ausspricht.) Das ist schade, da gerade die automatischen Stabilisatoren besonders geeignet wären, um konjunkturelle Ungleichgewichte gar nicht erst entstehen zu lassen. Aber da die Parteien auf die Frage, wie die gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik institutionell ausgestaltet sein sollte, bislang ohnehin nur eher diffuse Antworten haben, werden sie sich vielleicht auch in diesem Punkt nach der Bundestagswahl noch bewegen.

Fazit

Dass eine bessere wirtschaftliche Koordinierung zwischen den Euro-Staaten notwendig ist, bestreitet keine der Bundestagsparteien – aber wie sie genau aussehen soll, lassen sie weitgehend offen. Während die CDU/CSU bilaterale Vereinbarungen zwischen der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten vorschlägt, wollen SPD und Grüne das Europäische Parlament stärken; ihre genauen Pläne bleiben jedoch vage. Um das Wachstum anzukurbeln, setzen CDU/CSU und FDP vor allem auf Strukturreformen, während die Oppositionsparteien die EU-Mittel aufstocken wollen, um daraus europäische Investitionsprogramme zu finanzieren. Außerdem streben SPD, Grüne und Linke in Deutschland höhere Löhne an, um dadurch die Binnennachfrage zu stärken und die Leistungsbilanz-Ungleichgewichte in der Eurozone abzubauen. Insgesamt zeichnen sich hier also einige Unterschiede zwischen den Parteien ab. Allerdings ist die Debatte auch auf gesamteuropäischer Ebene noch stark im Fluss – über viele Vorschläge wird es wohl erst nach den Wahlen Klarheit geben.

Die Bundestagswahl und Europa – Überblick:

1: Warum wir im nationalen Wahlkampf über Europa reden müssen
2: Haushaltskontrolle, Steuerharmonisierung, Kampf gegen Steuerflucht
3: Eurobonds, Schuldentilgungsfonds, Staateninsolvenz
4: Wachstum, Beschäftigung, Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte
5: Soziale Mindeststandards, Mitbestimmung, öffentliche Daseinsvorsorge
6: Finanzmarktregulierung, Ratingagenturen, Bankenunion
7: Klimaziele, Emissionshandel, Energiewende
8: Agrarpolitik, Lebensmittelsicherheit, Umwelt
9: Netzpolitik, Datenschutz, Urheberrecht
10: Gemeinsame Außenpolitik, Rüstungskoordinierung, EU-Armee
11: Entwicklungspolitik, Transatlantische Freihandelszone, Beziehungen zu anderen Staaten
12: Migration, Schengen-Raum, Asylpolitik
13: EU-Konvent, Demokratie, Erweiterung

Bild: Chema Sanz [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

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