21 April 2014

Juncker, Schulz – oder doch ein ganz anderer? Die Chancen im Wettstreit um die Kommissionspräsidentschaft

Martin Schulz (SPD/SPE) und Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) stehen bei dieser Europawahl im Vordergrund.
So viel Duell war noch nie in einem Europawahlkampf: Wenn die Bürger der EU am 22.-25. Mai an die Urnen gehen, werden die Spitzenkandidaten der beiden größten europäischen Parteien – Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) für die Christdemokraten, Martin Schulz (SPD/SPE) für die Sozialdemokraten – einander nicht weniger als siebenmal im Fernsehen gegenübergestanden haben, um ihre Positionen einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Sie werden auf Französisch, Deutsch und Englisch debattiert haben, befragt von Journalisten, Wissenschaftlern oder ausgewählten Bürgern. Manchmal werden auch die Spitzenleute der kleineren Parteien (Ska Keller und José Bové für die Grünen, Guy Verhofstadt für die Liberalen, Alexis Tsipras für die Linke) mit auf dem Podium sitzen.

Im Mittelpunkt aber wird immer der Zweikampf zwischen den beiden Kandidaten stehen, die reelle Chancen haben, bei dieser Wahl das wichtigste Amt der Europäischen Union zu gewinnen: die Präsidentschaft der Europäischen Kommission.

Die europäischen Spitzenkandidaten

Die Aufstellung europäischer Spitzenkandidaten ist bekanntlich das große Novum dieser Europawahl. Bereits seit den 1990er Jahren wird der EU-Kommissionspräsident nicht mehr allein von den nationalen Staats- und Regierungschefs ernannt, sondern benötigt auch die Unterstützung des Europäischen Parlaments. In der Vergangenheit machten die Abgeordneten von diesem Mitspracherecht jedoch kaum Gebrauch, sondern winkten stets nur die Vorschläge des Europäischen Rates durch. Diesmal hingegen erklärten die europäischen Parteien bereits vor der Wahl, wen sie hinterher als Kommissionspräsidenten sehen wollen. Bei der Europawahl stimmen die Bürger daher nicht nur über die Parteien, sondern indirekt auch über deren Spitzenkandidaten ab: Jean-Claude Juncker oder Martin Schulz?

Besonders spannend wird dieser Zweikampf noch dadurch, dass die beiden größten europäischen Parteien in den Umfragen derzeit praktisch gleichauf liegen. Nachdem die christdemokratische Europäische Volkspartei seit 1999 stets die stärkste Fraktion im Parlament gestellt hat, werden die Sozialdemokraten dieses Jahr deutlich aufholen. Beide Parteien können mit etwa 210 bis 220 Mandaten rechnen; über den ersten Platz dürften zuletzt nur einige wenige Sitze entscheiden.

Koalitionserklärung zwischen EVP, SPE und ALDE

Vor diesem Hintergrund haben die Vorsitzenden der drei größten Fraktionen im Parlament, der Christdemokrat Joseph Daul (UMP/EVP), der Sozialdemokrat Hannes Swoboda (SPÖ/SPE) und der Liberale Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE), vor einigen Wochen eine gemeinsame Erklärung verabschiedet. Darin kündeten sie an, „so bald wie möglich nach der Europawahl“ in Beratungen einzutreten, um eine gemeinsame Linie für die Wahl des neuen Kommissionspräsidenten zu entwickeln. Dabei soll der Kandidat der größten Fraktion „den ersten Versuch haben, um die nötige Mehrheit zu bilden“. Jedenfalls aber, so die Erklärung, „muss“ der Kommissionspräsident aus den Reihen der nominierten Spitzenkandidaten gewählt werden.

Man geht vermutlich nicht fehl, wenn man diese Erklärung als eine Art wechselseitige Koalitionsaussage versteht. Schon in den letzten Jahren kamen die meisten Beschlüsse des Europäischen Parlaments durch Absprachen zwischen EVP, SPE und ALDE zustande, die gemeinsam über eine mehr als komfortable Mehrheit verfügen. Für die Wahl des Kommissionspräsidenten wollen die Fraktionen diese übergroße Koalition offenbar fortsetzen: Falls die EVP die größte Gruppierung im Parlament bleibt, werden auch die Sozialdemokraten Jean-Claude Juncker unterstützen. Sollte es jedoch der SPE gelingen, stärkste Fraktion zu werden, so kann Martin Schulz auch auf die Stimmen der Christdemokraten zählen.

Die Vorteile der Koalitionsaussage

Für Schulz und Juncker hat diese Erklärung einige offensichtliche Vorteile. Zum einen nimmt sie der Zeit nach der Europawahl ein wenig von ihrer Unsicherheit: Das Europäische Parlament setzt sich derzeit aus nicht weniger als sieben Fraktionen zusammen, und nichts deutet darauf hin, dass dieses Bild nach der Europawahl übersichtlicher würde. Ohne eine Kooperation von EVP und SPE wird eine Mehrheit deshalb allgemein eher schwer zu bilden sein.

Zum anderen könnte die angekündigte Zusammenarbeit EVP und SPE auch im Wettkampf mit den kleineren Parteien ähnlicher politischer Ausrichtung helfen. Dies dürfte insbesondere für Martin Schulz relevant sein, der auch unter Wählern der europäischen Grünen und Linken auf Sympathie stößt. Mancher von ihnen dürfte deshalb gehofft haben, dass Schulz sich nach der Wahl auf ein Bündnis aus Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken stützen wird, das den Umfragen zufolge ebenfalls auf eine knappe Mehrheit der Sitze kommt. Doch indem Schulz nun mehr oder weniger explizit auf diese Option verzichtet, macht er deutlich, dass man Sozialdemokraten – und nicht etwa Grüne oder Linke – wählen muss, wenn man ihn als Kommissionspräsidenten haben will.

Den geringsten Nutzen aus der gemeinsamen Erklärung von EVP, SPE und ALDE haben dementsprechend die Liberalen. Diese kommen in den Umfragen nur auf 70-75 Sitze und werden mit Sicherheit auch in Zukunft nicht die größte Gruppierung im Parlament stellen. Indem Verhofstadt nun seine Unterstützung für den Kandidaten der stärksten Fraktion ausspricht, verzichtet er deshalb faktisch auf seinen Anspruch, Kommissionspräsident zu werden. Dafür werden die Liberalen auch in Zukunft ihre Scharnierfunktion zwischen Christ- und Sozialdemokraten ausüben können und mit dabei sein, wenn EVP und SPE nach einer gemeinsamen Linie suchen.

Unwille der Staats- und Regierungschefs

Ist das also das Szenario, das uns ab Juni sicher erwartet: eine Fortsetzung der informellen großen Koalition im Europäischen Parlament, wobei entweder Martin Schulz oder Jean-Claude Juncker Kommissionspräsident wird, je nachdem, ob die SPE oder die EVP bei der Wahl die Nase vorn hat? Fast will es so scheinen – wäre da nicht noch der Europäische Rat als weiterer Unsicherheitsfaktor. Dieser hat bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten weiterhin das alleinige Vorschlagsrecht. Dabei muss er nach Art. 17 Abs. 7 EU-Vertrag zwar das Ergebnis der Europawahl „berücksichtigen“, aber was das genau bedeutet, ist den Staats- und Regierungschefs letztlich selbst überlassen.

Und wenigstens einige von ihnen scheinen nicht allzu begeistert von der Idee zu sein, dass künftig nicht mehr sie, sondern die europäischen Parteien und die Fraktionen im Europäischen Parlament die entscheidende Rolle bei der Vergabe des wichtigsten EU-Jobs spielen sollen. So erklärte etwa die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) im letzten Herbst, dass es „keinen Automatismus“ zwischen der Nominierung europäischer Spitzenkandidaten und der Wahl des Kommissionspräsidenten gebe. Und der britische Premierminister David Cameron (Cons./AECR) machte deutlich, dass er weder für Schulz noch für Juncker stimmen wird, da sie ihm beide zu sozial und zu pro-europäisch sind.

Ein Überraschungskandidat des Europäischen Rates?

Nun ist Camerons kategorisches Nein kein zwingendes Hindernis: Bei der Nominierung des Kommissionspräsidenten beschließt der Europäische Rat mit qualifizierter Mehrheit, sodass einzelne (auch große) Länder ohne Weiteres überstimmt werden können. Doch auch die übrigen Staats- und Regierungschefs haben Schulz und Juncker bislang nur eher lauwarme Unterstützung ausgesprochen. Und so sind bis jetzt die Spekulationen nicht verstummt, dass der Europäische Rat zuletzt einen ganz anderen Kandidaten aus dem Hut zaubern könnte – etwa den finnischen Ministerpräsidenten Jyrki Katainen (Kok./EVP), der kürzlich ankündigte, er wolle im Juni sein Amt niederlegen, um einen EU-Spitzenposten zu übernehmen. Oder den irischen Premier Enda Kenny (FG/EVP), den schon im letzten Herbst einige Beobachter als Merkels Favoriten für die Kommissionspräsidentschaft sahen.

Letztlich geht bei der Benennung des neuen Kommissionspräsidenten auch um die institutionellen Interessen des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates: Das Parlament möchte Schulz oder Juncker durchsetzen, da dadurch die europäischen Parteien gegenüber den nationalen Regierungen aufgewertet würden. Der Europäische Rat hingegen hat ein Interesse daran, dass keiner der beiden Kandidaten das Amt bekommt – einfach um zu zeigen, dass die Entscheidung über die wichtigsten EU-Jobs weiterhin von den Staats- und Regierungschefs und nicht vom Europäischen Parlament getroffen wird.

Warum ich selbst einen Überraschungskandidaten des Europäischen Rates für einen demokratischen Rückschritt halten würde, habe ich in diesem Blog an anderer Stelle bereits ausführlicher beschrieben: Nur wenn die Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten schon vor der Wahl bekannt sind, können wir Bürger mit unserer Stimme auch Einfluss auf dessen Besetzung ausüben. Zwischen Juncker und Schulz können wir wählen – mit Katainen oder Kenny müssten wir uns abfinden. Aber wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es tatsächlich dazu kommt? Drei Gründe stimmen mich vorsichtig optimistisch, dass das Europäische Parlament sich letztlich durchsetzen wird.

Chicken Game des Europäischen Parlaments

Erstens: Die Staats- und Regierungschefs haben sich (mit Ausnahme von Cameron) bislang niemals explizit gegen die beiden Spitzenkandidaten ausgesprochen. Sie könnten deshalb nachgeben, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Das Europäische Parlament hingegen hat sich – nicht zuletzt durch die gemeinsame Erklärung der drei Fraktionsvorsitzenden – bereits sehr viel deutlicher zu seiner Position bekannt. Sollten die Abgeordneten einen Rückzieher machen und zuletzt doch einen anderen Kandidaten als Schulz oder Juncker akzeptieren, würde das als eine klare Niederlage gesehen.

Wenn es hart auf hart kommt, hätte das Europäische Parlament deshalb den größeren Anreiz, seine Position durchzufechten. Und da die Staats- und Regierungschefs das wissen, werden sie vermutlich von Anfang an auf die Machtprobe verzichten. (In der Spieltheorie würde man diese Situation als Chicken Game beschreiben, wobei das Parlament die glaubwürdigere Selbstbindung eingegangen ist.)

Nicht alle Regierungschefs wollen einen Merkel-Kandidaten

Zweitens: Auch wenn der Europäische Rat insgesamt ein institutionelles Interesse hat, bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten selbst das entscheidende Wort zu sprechen, gilt das nicht für alle seine Mitglieder. Durch die Eurokrise ist in den letzten Jahren ein starkes Machtgefälle unter den EU-Ländern entstanden, wobei vor allem Deutschland seinen Einfluss immer weiter ausbauen konnte.

Besonders in den südeuropäischen Krisenstaaten dürfte es deshalb einige Regierungschefs geben, die in diesem Amt gerne einen der beiden Spitzenkandidaten sehen wollen: Da Schulz oder Juncker als Kommissionspräsident durch die Europawahl legitimiert wären, könnten sie der Berliner Europapolitik eine eigene Agenda entgegensetzen. Von einem Überraschungskandidaten wie Katainen oder Kenny, der seine Ernennung vor allem Angela Merkel zu verdanken hätte, wäre das hingegen kaum zu erwarten. Durch die Machtverschiebung vom Europäischen Rat zum Europäischen Parlament würde die EU wieder etwas „europäischer“ und etwas weniger „deutsch“ – was auch einige konservative Regierungschefs wie der Spanier Mariano Rajoy (PP/EVP) oder der Grieche Antonis Samaras (ND/EVP) wohl durchaus begrüßen würden.

Und schließlich: die Öffentlichkeit

Den Ausschlag aber könnte ein dritter Grund geben: die Erwartungshaltung der europäischen Öffentlichkeit. Sowohl Martin Schulz als auch Jean-Claude Juncker sind erfahrene Europapolitiker, denen das Amt des Kommissionspräsidenten vollkommen zuzutrauen ist. Zugleich genießen sie die Unterstützung der wichtigsten europäischen Parteien, die bei der Europawahl voraussichtlich eine große Mehrheit der europäischen Bevölkerung hinter sich vereinigen werden. Der Europäische Rat hat deshalb keinen guten Grund, sie beide abzulehnen – sollte er es doch tun, dann geschähe dies ganz eindeutig aus institutionellem Eigennutz und nicht zum Besten der Europäischen Union insgesamt.

Wenn also nach der Wahl ein bedeutender Teil der europäischen Bevölkerung davon ausgeht, dass Juncker oder Schulz das Amt bekommt, dann wird es dem Europäischen Rat sehr schwer fallen, die Ernennung eines anderen Kandidaten in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Eine echte Chance, mit einer solchen Entscheidung davonzukommen, haben die Staats- und Regierungschefs deshalb nur dann, wenn die beiden Spitzenkandidaten weitgehend unbekannt bleiben.

Insofern ist es kein gutes Zeichen, dass beispielsweise die deutsche CDU (EVP) in ihrer Europawahlkampagne darauf verzichtet, Jean-Claude Juncker zu plakatieren, und stattdessen voll auf das Gesicht von Angela Merkel setzt. Tatsächlich werden bereits die ersten Stimmen ärgerlicher Europafreunde laut, die vom bisherigen Verlauf des Wahlkampfs frustriert sind. Andererseits sind es noch über dreißig Tage bis zur Wahl, die heiße Phase hat gerade erst begonnen – und schon heute dürften Schulz und Juncker einer breiten Öffentlichkeit bekannter sein, als die meisten anderen Europapolitiker je gewesen sind. So viel Duell war noch nie in einem Europawahlkampf, und das ist gut so.

Weitere Artikel zur Europawahl in diesem Blog:

Noch 365 Tage bis zur Europawahl 2014!
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● Juncker, Schulz – oder doch ein ganz anderer? Die Chancen im Wettstreit um die Kommissionspräsidentschaft
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Bild: By European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

3 Kommentare:

  1. Es gibt doch gar keine echte Auswahl - die Tatsache, dass die beiden grossen Parteienblöcke - falls notwendig - sich jeweils wechselseitig bei der Wahl die Stimmen zuschieben wollen, reicht mir, um zu verstehen, dass der Bürger hier wieder nur die Auswahl vorgegaukelt bekommt - passt auch zu der Beobachtung, dass sich die Positionen der beiden nur marginal voneinander unterscheiden

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  2. Gerald Fix27/4/14 18:07

    Die Autos, die im Feiglingsspiel aufeinander zu fahren, sind aber gleich stark ... das trifft für die Kontrahenten in diesem Spiel nicht zu. Kein CDU-Parlamentarier behält seinen Sitz, wenn er Frau Merkel verärgert; daher würde die Europa-CDU im Zweifelsfall für deren Kandidaten stimmen.

    Andererseits sind Namensnennungen im Vorfeld (Kenny) meist tödlich - vor allem, wenn sie aus Deutschland kommen.

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  3. Leider, leider sieht es so aus als wäre tatsächlich von der CDU nicht zu erwarten, dass sie im Zweifel Schulz mitwählen würde. Das kam zumindest als Antwort, als ich Herrn Wieland (zurzeit Vizepräsident des Parlaments, MEP der EVP) dazu fragte.

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