- Tanja Fajon (SD/SPE) hat die Mehrheit im Europäischen Parlament hinter sich. Ob das reicht, um Kommissarin zu werden?
Im Europäischen
Parlament geht eine turbulente Woche ihrem Höhepunkt entgegen. Die
Anhörungen der designierten Mitglieder der neuen EU-Kommission,
schon in der Vergangenheit wiederholt Anlass zu heftigen Debatten,
wurden dieses Jahr mit noch mehr Eifer geführt als sonst. Nach
einigen Aufwallungen rauften sich zuletzt die beiden großen
Fraktionen, die christdemokratische EVP und die sozialdemokratische
S&D, erwartungsgemäß zu einer gemeinsamen Linie zusammen.
Daraus entstand allerdings gleich der nächste Streit, diesmal mit
der liberalen Fraktion ALDE und der slowenischen Regierung. Am Ende
aber könnte es sein, dass dem Parlament mit all den Diskussionen ein
kleiner, aber wichtiger Schritt in Richtung einer demokratischeren EU
gelingt.
Die Anhörungen im
Europäischen Parlament
Die Hintergründe für
die jüngsten Debatten habe ich an dieser Stelle erst
vor einigen Tagen näher beschrieben. Bevor die neue
EU-Kommission ihr Amt übernimmt, müssen sich ihre vom Ministerrat
designierten Mitglieder einem Zustimmungsvotum des Europäischen
Parlaments unterziehen. Die Abgeordneten nutzen dies traditionell, um
die Bewerber auf einen Kommissarsposten ausführlich zu befragen und
ihnen einige inhaltliche Zugeständnisse abzuringen. Außerdem können
sie den Rat informell auffordern, ganz inakzeptabel erscheinende
Kandidaten auszutauschen, was 2004 und 2010 auch schon vorgekommen
ist. Die entscheidende Rolle spielen dabei stets die beiden großen
Fraktionen EVP und S&D, da es faktisch unmöglich ist, ohne sie
eine Mehrheit für die neue Kommission zu bilden.
Dieses Jahr nun
verwehrten die Abgeordneten zunächst gleich einer ganzen Reihe von
Kommissarsanwärtern ihre Zustimmung. Dahinter verbargen sich
allerdings in erster Linie parteitaktische Spiele: Unter den
Kandidaten gab es sowohl einige EVP-Mitglieder (etwa den Spanier
Miguel Arias Cañete)
als auch einige Sozialdemokraten (etwa den Franzosen Pierre
Moscovici), die für die Anhänger der jeweils anderen Partei nur
schwer zu akzeptieren waren. Die Fraktionen stellten deshalb die
Bestätigung für diese Kandidaten zunächst zurück, um sie
schließlich in einem Gesamtpaket geschlossen
durchzuwinken. Lediglich Tibor Navracsics (Fidesz/EVP), in dessen
Ressort auch der Bereich „Unionsbürgerschaft“ fallen sollte,
erhielt keine
komplette Freigabe: Als Ex-Mitglied der umstrittenen ungarischen
Regierung unter Viktor Orbán hielten ihn die Parlamentarier zwar
grundsätzlich als Kommissar geeignet, aber nicht für ein
„wertebasiertes Portfolio“.
Kandidatur und Rückzug
der Alenka Bratušek
Zum
eigentlichen Politikum aber wurde die Kandidatin für das Amt der
Vizepräsidentin für die Energieunion, die Slowenin Alenka Bratušek
(ZaAB/ALDE). Anders als Cañete,
Navracsics oder Moscovici gehört Bratušek
keiner der beiden großen Parteien an, sondern der liberalen ALDE –
die zwar eng mit EVP und S&D zusammenarbeitet, für eine Mehrheit
im Parlament jedoch nicht zwingend notwendig ist.
Hinzu
kam eine etwas dubiose Vorgeschichte der Kandidatin: Diese war bis
vor wenigen Monaten noch slowenische Premierministerin, hatte dann
jedoch im Juli krachend
die nationalen Parlamentswahlen verloren. Bevor ihr Nachfolger
Miro Cerar (von der erst 2014 gegründeten, auf europäischer Ebene
nicht vernetzten Partei SMC)
die Regierungsgeschäfte übernahm, musste Bratušek
als eine ihrer letzten Amtshandlungen allerdings noch das slowenische
Mitglied der neuen EU-Kommission vorschlagen. Dafür schickte sie dem
Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) eine
Liste mit drei Namen, von denen er einen aussuchen sollte: die
Europaabgeordnete Tanja Fajon (SD/SPE), der slowenische Außenminister
Karl Erjavec (DeSUS/ALDE-nah) – und Bratušek
selbst. In Slowenien stieß diese Selbstnominierung teils auf heftige
Kritik. Juncker jedoch entschied sich tatsächlich für sie und
stellte sie als Energie-Vizepräsidentin auf.
Zum
eigentlichen Verhängnis aber wurde der Kandidatin ihre mangelnde
Vorbereitung bei der Anhörung
im Umweltausschuss des Parlaments. Die Abgeordneten (ohnehin
schon verärgert darüber, dass in der neuen Kommission das
Ressort Klima dem Energiebereich untergeordnet werden soll)
warfen ihr vor, auf entscheidende Fragen keine Antworten zu geben,
und stimmten mit großer Mehrheit gegen sie. Und obgleich sowohl
Juncker als auch die ALDE-Fraktion Bratušek
bis zuletzt zu retten versuchten, erklärte sie am gestrigen
Donnerstagnachmittag schließlich ihren Rückzug
von der Kandidatur.
Der
Vorstoß von EVP und S&D
Damit
aber gab sich die Parlamentsmehrheit noch nicht zufrieden. Denn nach
dem Aus für Bratušek
wird natürlich die Nominierung eines neuen slowenischen Kandidaten
notwendig (bzw. einer Kandidatin, um die mühsam
erreichte Quote von neun weiblichen Kommissionsmitgliedern zu
halten). Und die beiden großen Fraktionen präsentierten auch gleich
einen Namen dafür: Tanja Fajon, sozialdemokratische
Europaabgeordnete und die zweite Frau auf der ursprünglichen
slowenischen Vorschlagsliste. So erklärte die EVP in einer
Pressemitteilung, dass Fajon „die
Bedingungen perfekt erfüllen“ würde. Die S&D ging sogar
noch weiter und kündigte an, „[j]ede andere Option“ würde „der
Sozialdemokratischen Fraktion nicht sinnvoll erscheinen“. Was
das heißt, ist nicht schwer zu verstehen: Jede andere Kandidatin als
Fajon muss damit rechnen, bei der Anhörung ebenso durchzufallen wie
Bratušek.
Für
eine solch klare Position des Europäischen Parlaments gibt es nur
einen einzigen Präzendenzfall: das
Spitzenkandidatenverfahren bei der vergangenen Europawahl, wo die
Abgeordneten ebenfalls ankündigten, dass sie keinen anderen als den
Wahlsieger Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsidenten
akzeptieren würden. Doch während damals das Parlament nahezu
geschlossen hinter dieser Forderung stand, stieß sie diesmal auf
heftige
Kritik von Seiten der ALDE-Fraktion. Denn schließlich würde der
Wechsel von Bratušek
zu Fajon auch bedeuten, dass die Liberalen einen Kommissarsposten
weniger, die Sozialdemokraten einen mehr besetzen würden.
Uneinigkeit
in der slowenischen Regierung
Und
dann gibt es da natürlich auch noch die neue slowenische Regierung
unter Miro Cerar. Dieser war bereits im Sommer verärgert gewesen,
dass Bratušek
sich selbst als Kandidatin aufgestellt hatte. Ihre Ablehnung im
Umweltausschuss des Parlaments ist für ihn deshalb auch die Chance,
eine eigene, ganz neue Kandidatin ins Spiel zu bringen: Violeta Bulc
(SMC/–), Parteifreundin Cerars und seit Mitte September
Vizepräsidentin in seiner Regierung. Sofort nachdem die Forderungen
der EVP- und S&D-Fraktion bekannt wurden, erklärte er deshalb,
er werde kein
„Ultimatum“ akzeptieren und selbst über das neue slowenische
Kommissionsmitglied entscheiden.
Doch
auch in Cerars Kabinett ist die Nominierung umstritten, denn die SMC
regiert nicht allein, sondern in einer Koalition mit der ALDE-nahen
Rentnerpartei DeSUS – und mit eben jenen Sozialdemokraten, denen
auch Tanja Fajon angehört. Noch am heutigen Freitagmorgen gab es
deshalb keine klare
Entscheidung, wie sich die slowenische Regierung letztlich
positionieren würde. Allerdings lief
das Gerücht, dass sich Cerar über seine Koalitionspartner
hinwegsetzen und Bulc im Alleingang nominieren wolle.
Aus
verfassungsrechtlicher Sicht unlösbar
Was
ist nun von alledem zu halten? Aus verfassungsrechtlicher Sicht
scheint der Konflikt um Fajon und Bulc ebenso wenig zu beantworten
wie die Frage der Spitzenkandidaten im Frühsommer. Nach Art.
17 Abs. 7 EU-Vertrag werden die Kommissarskandidaten auf
Vorschlag der nationalen Regierungen vom Ministerrat nominiert und
vom Europäischen Parlament bestätigt. An welche politischen
Bedingungen das Parlament diese Bestätigung knüpft, bleibt hingegen
ganz den gewählten Abgeordneten überlassen: Wenn sie sich darauf
verlegen wollen, jede Kommission ohne Fajon abzulehnen, so wäre das
ihr gutes Recht. Notfalls müsste dann die alte Kommission Barroso
weiter die Geschäfte führen, bis der politische Konflikt gelöst
ist.
Umgekehrt
scheint die Forderung Cerars, das slowenische Kommissionsmitglied
selbst zu bestimmen, rechtlich weniger gut gestützt. Selbst wenn es
den bisherigen Gepflogenheiten entspricht, dass jede nationale
Regierung sich ihren Kommissar frei aussuchen darf: De jure ist es
der Ministerrat,
der die Kandidaten nominiert. Dies erfolgt zwar „auf der Grundlage
der Vorschläge der Mitgliedstaaten“ – doch da Slowenien im
Sommer ja bereits eine Vorschlagsliste unterbreitet hat, könnte
Cerar sich nicht beklagen, wenn der Rat nun mit Fajon eine der
anderen Personen auf dieser Liste auswählt.
Allerdings
werden die übrigen Regierungen im Rat nur wenig Interesse daran
haben, ihren slowenischen Kollegen solcherart vorzuführen (und
überdies einen Präzedenzfall zu setzen, der sich irgendwann gegen
sie selbst wenden könnte). Und damit stehen nun alle Zeichen auf
eine Machtprobe zwischen der slowenischen Regierung und der Großen
Koalition im Europäischen Parlament.
Und
die Demokratie?
Und
wenn man die verfassungsrechtliche Perspektive verlässt und den
Konflikt unter demokratischen Gesichtspunkten betrachtet? Im ersten
emotionalen Aufwallen gestern gab es nicht wenige Kommentatoren, die
EVP und S&D ein undemokratisches Verhalten vorwarfen; der
slowenische ALDE-Abgeordnete Ivo Vajgl (DeSUS) sprach in einer
Presseerklärung gar von einer „Kampfansage
an die Souveränität Sloweniens“. Denn natürlich sind die
Forderungen der Parlamentsmehrheit eine deutliche Veränderung
gegenüber dem, was bisher bei der Ernennung der Europäischen
Kommission üblich war. Und anders als das Spitzenkandidatenverfahren
bei der Europawahl wurden sie auch nicht schon Monate im Voraus
angekündigt und öffentlich diskutiert.
Andererseits:
Ich selbst habe dem Parlament auf
diesem Blog bereits Ende 2012 einmal fast genau diese Vorgehensweise
vorgeschlagen (allerdings nicht nur in Bezug auf eine einzelne
Kommissarin, sondern auf die gesamte Kommission). Denn in
Wirklichkeit ist der Kurs, den die Große Koalition gerade
einschlägt, keineswegs undemokratisch, sondern schlicht der Versuch,
die Modalitäten eines parlamentarischen Regierungssystems auf
europäischer Ebene zu etablieren.
Nur das Parlament ist von allen Unionsbürgern gewählt
Der
EU-Vertrag verpflichtet die Mitglieder der Europäischen Kommission
auf das europäische Gesamtinteresse. Die nationalen Regierungen
hingegen sind durch die demokratischen Wahlmechanismen lediglich
ihrer jeweils eigenen nationalen Wählerschaft Rechenschaft schuldig.
Die Nominierung der Kommissare durch die Regierungen ist damit an
sich bereits ein latenter Widerspruch (was übrigens auch ein
europaskeptischer Abgeordneter in einer der Anhörungen letzte Woche
treffend
zum Ausdruck brachte). Das Europäische Parlament hingegen ist
von allen Unionsbürgern gemeinsam gewählt und damit strukturell
allen Europäern verantwortlich. Was
also läge näher, als dass die Abgeordneten auch die Namen der
Kommissionsmitglieder bestimmen sollten?
Auf
den konkreten Fall bezogen: Als deutscher, polnischer oder
portugiesischer Bürger habe ich keinerlei Einfluss darauf, welche
Entscheidung Miro Cerar bezüglich des slowenischen
Kommissionsmitglieds trifft. Wie sich die sozialdemokratische
Fraktion im Europäischen Parlament in dieser Frage verhält, kann ich hingegen in
meine nächste Europawahlentscheidung einfließen lassen – und
bekomme dadurch eine Möglichkeit zur demokratischen Mitbestimmung.
Das Parlament braucht Macht, um Verantwortung zu tragen
Und
das gilt natürlich nicht nur für Fajon, sondern auch für die
übrigen umstrittenen Kandidaten – seien es die Christdemokraten
Miguel Arias Cañete und Tibor Navracsics oder der Sozialdemokrat
Pierre Moscovici. Sie alle entziehen sich meinem Einfluss, wenn ich
das Prinzip akzeptiere, dass sie ihr Amt in der Europäischen
Kommission in erster Linie ihren nationalen Regierungen verdanken.
Wenn ich die Verantwortung für ihre Ernennung hingegen im
Europäischen Parlament verorte, so wird schnell deutlich, wie ich
bei meiner nächsten Wahlentscheidung zu ihnen Stellung beziehen und
sie gegebenenfalls abwählen kann.
Nur:
Dafür muss die Mehrheit im Europäischen Parlament auch die Macht
haben, diese Verantwortung zu tragen. Solange sich die Große
Koalition darauf herausreden kann, dass sie nun einmal die Namen
akzeptieren musste, die ihr von den nationalen Regierungen vorgelegt wurden, können die übrigen Parteien ihr diese
Personalentscheidungen nur schwer zum Vorwurf machen. Die Ernennung
Fajons hingegen fiele voll und ganz in die Verantwortung von S&D
und EVP. Und gleichgültig, ob Fajon für das Amt besonders gut
geeignet ist oder nicht: Allein schon aus diesem Grund täten die
ALDE, die übrigen Fraktionen und die demokratisch interessierte
Öffentlichkeit gut daran, sich in dem jetzt womöglich anstehenden
institutionellen Machtkampf nicht auf die Seite Miro Cerars zu
schlagen.
Bilder: by Friends of Europe [CC BY 2.0], via Flickr.
Hallo Herr Müller,
AntwortenLöschenich kann zwar nicht sagen, ob die Debatte tatsächlich heftiger ist, allerdings würde dies meine Vermutung bestätigen, dass durch die schrumpfenden Mehrheiten (der großen etablierten Parteien) die Partikularinteressen stärkere Bedeutung bekommen, wie ich das hier schon mal angemerkt habe.
Eine Chance für die Demokratie sehe ich nicht wirklich. Für den Informierten mag das Verfahren nun eine Winzigkeit demokratischer sein, das empfinde ich auch so, aber in der breiten Masse wird vermutlich nur ein „Postengeschacher“ der „großen Koalition im EP“ ankommen – befürchte ich.
Insgesamt wieder ein schöner Beitrag mit guten Hintergrundinformationen.